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Essays


Ästhetik, Interpretation und Philosophie in der Kunst oder: Die Notwendigkeit zur Rückbesinnung auf die große Tradition - April 16, 2002
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image In Thomas Manns Alterswerk »Doktor Faustus«, "jener an das alte Deutsche Volksbuch vom Teufelsbeschwörer Dr. Faustus sich anlehnenden Künstlerbiographie, in welcher das Schicksal der Musik als Paradigma der Krisis der Kunst selbst, der Kultur überhaupt, behandelt ist ..." - so die Worte des Autors - steht im Mittelpunkt die Romanfigur Adrian Leverkühn und seine in syphilistischer Ekstase entstandenen atonalen Kompositionen als Beispiele notwendig gewordenen dodekaphonischen Denkens. Dabei wird auf geradezu bewegende Art und Weise dessen exemplarische Kunst mit der Sichtweise des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer in Verbindung gebracht, dessen Idealvorstellung einer nach berückender Versinnlichung strebenden Interpretation im Sinne von Wahrheit darin bestand, das ureigenste Anliegen großer Musik darin verwirklicht zu sehen, deren Wesen im Jenseits des Gemüts und der Sinne zu vernehmen und anzuschauen. Was Schopenhauer damit meinte, bezog sich letztlich auf eine »Allumfassenheit«, einer Ebene gleichend, auf der die Ausleuchtung verschiedenster Parameter in Werk und Interpretation allen Anforderungen standhielt. Einen Prozess »historischer Kreation« nannte er dies.

Gestatten wir uns hier eine Reflexion über die Bedeutung und den Grund des Wandels der Interpretation großer Kunstwerke und vor allem des (fälschlicherweise) immer mehr in den Hintergrund gedrängten Phänomens der »Emotion«:

Wenn große und zu Recht berühmte - mittlerweile leider nicht mehr unter uns weilende - Interpreten im Konzert ihre Ansichten mitteilten, erfuhren wir Musik als das, was sie eigentlich war: SPRACHE. Sprache in der Auslotung von Details, in der Hervorkehrung und Deutung einkomponierter Reibungen und Schroffheiten, quasi als Spiegelbilder in der Entstehung ihrer jeweiligen Zeit, widerspiegelt an der eigenen Identität, dem intuitiven Wissen um große Zusammenhänge und der Persönlichkeit des Künstlers. So entwuchs ein Kunstwerk, dessen Aussage stets einzigartig, charismatisch, authentisch, aber auch - im positiven Sinne - nicht wiederholbar war, einem einzigen großen Wurf gleichend, eigenwillig bisweilen eigensinnig, jedoch stets die Balance wahrend zwischen Bedeutung des Moments und Forderung der Sache, ein Spannungsgefühl, das bisweilen ein neues Schönheitsideal entstehen ließ. Interpretation nicht aus klassisch-plakativer Draufsicht, sondern als ein sich unerbittlich dynamisch entrollender Prozess. Ein solcher Reifungsprozess setzt jedoch eine Entwicklung im ureigensten Sinne voraus, eine Entwicklung, die Zeit benötigt, Zeit, um zu einer "eigenen Spache" zu gelangen.

In einem renommierten deutschen Musikmagazin hatte ich mich in einem Interview der Frage zu stellen, was ich jungen Pianisten empfehle, um eine eigene Identität zu finden. Ich antwortete, dass ich große Probleme und direkt eine große Gefahr für die Kunst in der Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit sehe. Jungen Pianisten bleibt oft nicht die Zeit der Rückbesinnung und Ruhe für einen inneren Reifungsprozess. Bereits in der Schule setzt sehr schnell eine Spezialisierung ein (Kollegstufe), die eine eigentliche Ausweitung einer Allgemeinbildung verhindert. Diese Entwicklung stelle ich in Frage.
Dann sehe ich das Problem der int. Wettbewerbe, bei denen es allesamt um den Wettlauf um das schnellste und lauteste Spiel; anstelle um die Musik an sich und deren Hervorbringung geht.

Auch die Wahl eines entsprechenden Lehrers ist von höchster Wichtigkeit: Ich lehne entschieden bestimmte Talentschmieden ab, die quasi guruhaft ihre Schüler auf die vorderen Plätzen der Wettbewerbe platzieren anstelle den tiefergehenden Gehalt der Kunst zu lehren.

Ich wünsche jungen Pianisten die Kraft, dieser Maschinerie zu widerstehen und die Fähigkeit, in sich selbst hineinzuhören: Wenn sich Begabung und Talent, Fleiß und härteste Arbeit, Intelligenz und die entsprechende Ausweitung einer allumfassenden Bildung die Waage halten, dann ist die Voraussetzung für die Schaffung und Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit geschaffen.

Zu dieser Entfaltung ist eine heutzutage leider immer mehr in den Hintergrund tretende Eigenschaft notwendig: Mut. Mut, sich nicht zeitlich-kurzlebenden Strömungen zu unterwerfen oder gar unterwerfen zu lassen, Mut zur Unabhängigkeit, Mut, eigene Konzepte zu entwickeln und dahinter zu stehen. Mut zur Eigenständigkeit; Mut, sich vom Trend der Anpassung zu lösen.

Und überdies steht für mich die Bewahrung einer Natürlichkeit und menschlichen Einfachheit in Form menschlicher Größe an zentraler Stelle: Wenn die Blickrichtung über alle intellektuellen Bezüge hinaus geht, droht die Gefahr, den Blickwinkel zum Inneren, womit ich diesbezüglich das normale Leben meine, zu verlieren: Große Kunst wurde nämlich aus dem Leben, dessen Menschlichkeit , dessen Einfachheit und auch dessen Niederungen geboren. Arroganz ist hier fehl am Platz.

Interpretation als ein Aspekt humaner Wirklichkeit also, womit der Kreis der Intuition geschlossen wäre.

Ich selbst bekenne mich zu meinem künstlerischen Credo, der Ästhetik des deutschen Philosophen Hegel entstammend, welche nicht nur Überzeugung, sondern quasi Verpflichtung meines eigenen künstlerischen Wollens, Denkens und Wirkens ist: "Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern ... mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun."

Sich entführen zu lassen in die inneren Bezirke großer Musik und Musik als Offen-Legung zu begreifen, vor allem auch in Kenntnis der Abgrenzung gegenüber kurzweiliger, vordergründiger Effekthascherei, dies dürfte die Aufgabe und Verpflichtung von Interpret, Hörer, Konzertagenten, Veranstaltern, Musikkritikern und insbesondere der Schallplattenindustrie, welche zum Erhalt von Kulturgut beiträgt, für die nächsten Jahre sein.

© Burkard Schliessmann, 2002


Musik und Intelligenz - July 19, 2002
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Deutschland, das Land der Dichter, Künstler und Philosophen, einst groß in Tradition und Vorbild, durch PISA und dadurch entfachte Diskussionen international an den untersten Platz verwiesen? Dabei sind mit Lese- und Textverständnis, mathematischer und naturwissenschaftlicher Grundbildung lediglich "kognitive" Fähigkeiten überprüft worden.

Doch dass in Schulen auch Grundlagen für ästhetische Bildung gelegt werden, sollte ebenso Diskussionspunkt bleiben, zumal - auch unter pädagogischem Blickwinkel - die Tonkunst als «Instrument» generell angesehen wird. Da kommt schnell die Schlußfolgerung auf, dass Musik aggressionshemmend, dafür jedoch lernfördernd sei.

Der einseitigen Blickrichtung von PISA zum Trotz, gestatten wir uns einen kurzen Exkurs in die Welt der Musik um zu erfahren, welche Auswirkungen das Erlernen und das Spielen eines Instruments auf die Intelligenz hat und inwieweit hierbei auditorische und sensomotorische Hirnfunktionen miteinander verschmelzen:

Beim Erlernen und Spielen eines Instruments geht es in erster Linie um die Angleichung zwischen dem motorischen System und der "Kontrollinstanz" Ohr. Permanentes Üben und Training dient dabei neben dem Erwerb von feinmotorischen Fertigkeiten vor allem der Ausbildung einer schnellen Rückkopplungsschleife Sensomotorik - Instrument - Klang - Gehörsinn - interne Schnittstelle - Sensomotorik - usw. und setzt hierbei in erster Linie an der internen Schnittstelle zwischen Hören und Bewegen an. Bei einem professionellen Musiker sind beide Systeme hochgradig miteinander verbunden, aber auch beim Amateur führt das Bemühen um diese (unbewußte) Angleichung zu einer erwiesenermaßen gesteigerten Selbstreflexion von Tun, Wollen und Realisation seiner Vorstellung.

In einer vom Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin, Hannover, aufgezeigten Studie wird eindrucksvoll dargestellt, wie bereits erste Minuten am Klavier das Gehirn in seiner Funktion verändern: Bereits das Anhören von einfachen Melodien zeigt eine deutliche Aktivierung der Hirnrinde, insbesondere des rechten seitlichen Anteils des Scheitel- und Schläfenlappens. Dass Musizieren und damit in Zusammenhang stehend das Auswendiglernen eines Notentextes als Gehirnjogging dient, ist eine altbekannte Tatsache. So demonstrieren die Kopfdiagramme der Hannoverschen Studien auch, welche Anpassungsvorgänge in der Großhirnrinde schon nach wenigen Minuten Üben ablaufen, aber auch, dass, beispielsweise beim Klavierüben, weitverzweigte Nervenzellnetzwerke mit Einbeziehung fast aller Großhirnstrukturen aktiviert werden. Möglicherweise liegt auch darin das Geheimnis, weshalb auf Basis dieses permanenten geistigen Trainings professionelle Pianisten länger jung bleiben.

Erstaunlicherweise ist bereits bei Anfängern eine auditorisch-sensomotorische Koppelung der Hirnstrukturen nachweisbar. Auch wenn diese noch nicht als stabiles neuronales Netzwerk zur Verfügung steht, deutet das Auftreten der Ko-Repräsentation bereits im frühesten Stadium des Erwerbs (beispielsweise) pianistischer Fähigkeiten daraufhin, dass diese Verknüpfung von wahrnehmungs- und handlungsspezifischen Hirnarealen nicht nur durch das Musizieren angeregt und beschleunigt wird, sondern umgekehrt eine Voraussetzung für das Musizieren überhaupt ist, was den Schluß zuläßt, dass Musik und Musizieren diese Vernetzung fordert und zugleich fördert.

Interessant hierbei die Einschätzung eines professionellen Pianisten in einem Zitat von Homer W. Smith aus "From Fish to Philosopher": «Die kompliziertesten und doch am perfektesten koordinierten Willkürbewegungen im ganzen Tierreich sind die Bewegungen der menschlichen Hand und der Finger. Und vielleicht werden bei keiner anderen menschlichen Aktivität die ungeheuren Leistungen des Gedächtnisses, der komplexen Integration und der muskulären Koordination eines professionellen Pianisten übertroffen».

Musik und Kunst sind notwendig, um unser Wissen daran zu bilden. Musik, Kunst und deren Interpretation sind allumfassend und setzen für Verständnis und Weitervermittlung auf entsprechendem Niveau die exakte Kenntnis und Einbeziehung von Philosophie, Literatur, Soziologie, Kunstgeschichte und Naturwissenschaften der jeweiligen Zeit voraus. Unter dieser großflächigen Denkrichtung läuft die PISA-Studie Gefahr, in ihrer Konzentration auf Lexikalisch-Analytisches bzw. auf Details den großen Bogen außer Acht zu lassen. Letzten Endes sind es schon immer das «gelebte Leben» und die damit verbundene Authentizität gewesen, die einen Menschen in seiner (Lebens-)Leistung, aber auch ein Land als «groß» erscheinen ließen.

Unter diesem Blickwinkel versteht man dann auch die Äußerung von Otto Schily, "Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit", als Ermutigung und wertet diese als eindeutiges Signal. Klar, auch er ist - wenn auch nur in seiner Freizeit - passionierter Klavierspieler und wurde in diesem Jahr auf der Frankfurter Musikmesse zum "Klavierspieler des Jahres" nominiert. Musik ist Teil seines menschlichen und beruflichen Wollens.

© Burkard Schliessmann, 2002


Musik und Kunst im Spannungsfeld der Individualität - September 24, 2002
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image Es ist immer misslich und kommt schief heraus, wenn man von den »Aufgaben« der Kunst redet, von dem, was die Kunst und der Künstler eigentlich »sollen«. Der Künstler »soll« überhaupt nicht; der wirkliche Künstler erfüllt seine Aufgabe niemals aus dem Bewußtsein eines Sollens heraus, sondern triebhaft, indem er einfach tut, wozu seine Natur ihn antreibt. Weit darüber hinaus aber hat der Künstler, wie jeder geistige und über das Mittelmaß hinaus feinorganisierte Mensch auch seine Bedeutung für die Zukunft der Menschheit.

"Jeder solche eigenartige, feine, zarte, temperamentvolle, unruhige Mensch, wie Künstler es sind, stellt einen Versuch der Menschheit zu neuen Möglichkeiten dar, und je mehr der Künstler dies ahnt und in seinen Werken ausspricht, desto stärker wird seine Wirkung sein, wenn auch nicht im Augenblick", so definierte einst Hermann Hesse in seinen "Feuilletons" seine eigene Sichtweise von Kunst. Überhaupt stets selbst im Spannungsfeld der ein Künstlerleben zwar bestimmenden, aber zur Hervorbringung großer, einzigartiger Kunst notwendigen zerreißenden Prozesse stehend, lieferte er zahlreiche, ebenso tiefsinnig-bewegende wie auch humoristische Erklärungen, welche gleichsam Reflexionen in der Betrachtung der Welt und ihrer bisweilen eigendynamischen Gesetzmäßigkeiten waren und immer noch sind. So wagte bereits er den Vorstoß und äußerte in seinen "Briefen", dass unsere Zeit kein geschicktes Beamtentum und Betriebsamkeit braucht und verlangt, sondern Persönlichkeit, Gewissen, Verantwortlichkeit.

Ob diese Authentizität in unserer heutigen Zeit denn auch beliebt ist? Mich selbst fasziniert immer wieder die Tatsache, dass die meisten unserer Werturteile damit zusammenhängen, dass uns die dazugehörige Identität bewußt ist; wir neigen dazu, furchtbare Angst davor zu bekommen, ein Urteil zu fällen, wenn wir die Identität desjenigen, der für ein Kunstwerk verantwortlich ist, nicht kennen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein gewisser Teil unserer Persönlichkeit im Rahmen einer bestimmten Lebensweise, eines bestimmten Namens funktioniert, während ein anderer Teil möglicherweise erst dann am besten funktioniert, wenn man diesen Rahmen verläßt.

Kompromißloser Eigen-Sinn freilich hat seine Tücken, weil - um es mit den Worten des deutschen Satirikers Christian Morgenstern zu sagen - nicht sein kann, was nicht sein darf: Wer ein bestimmtes Maß überschreitet, ist kaum tragbar, sondern ein Konkurrent, der desto gefährlicher erscheint, als sich Fachlich-Sachliches gegen ihn nicht ins Feld führen läßt.

Bereits Robert Schumann, jener spannendste und phantastisch-romantischste aller deutschen Künstlerpersönlichkeiten, mit all seinen bizarren Gegensätzen, ungelösten Problemen, Sehnsüchten und Verzweiflungen, geriet ins Zwielicht jener von der Gesellschaft falsch verstandenen und selbst geschaffenen Normierungen. Unbestritten war er ein junger Wilder und wurde durch die Gesellschaft des Biedermeier gezähmt. Ist das eine der Ursachen für seine Krankheit? Er ging viel weiter, als es das Biedermeier erlaubte. War er also gar nicht krank, sondern ein im Grunde vitaler Widerspruch zu seiner gesellschaftlichen Umgebung, die ihn entweder nicht verstand oder nicht dulden mochte?

Spricht man vom Genie als einer biologischen Angelegenheit, so ist jener bedeutende Mensch höchster Ausprägung gemeint, der im Ausleben seiner Leidenschaften nahezu immer ein tragisches Leben hat und im fahlen Licht der Untergangsnähe lebt - nicht zu verwechseln mit der philiströsen Bourgeoislehre, in der Genie stets mit Irrsinn verwechselt wird.

Liest man die Biographien vieler Berühmtheiten, so tendiert man dazu den beruhigenden Schluß zu ziehen, dass schließlich doch jeder seiner Stärke und Begabung entsprechend seinen Weg gefunden hätte, seine Werke geschaffen habe und so schließlich zu einer berechtigten Erfüllung gelangt sei. "Das ist ein feiger Trost und eine Lüge; es sind in Wahrheit viele jener Berühmtheiten trotz hoher Leistung nie das geworden, wozu der Wurf und die Begabung in ihnen lag, und es sind zu allen Zeiten viele Begabte nicht auf den ihrer würdigen Weg gekommen und viele Lebensläufe gebrochen und ins Elend getrieben worden", widerspricht Hermann Hesse in seiner "Prosa aus dem Nachlaß".

Kunst und Musik - ein Politikum, was schon immer in seiner Faszination und Gegensätzlichkeit eine Polarisierung der Meinungen auf einer ganz besonderen Ebene der Diskussionen auslöste.

Kunst als Betrachtung der Welt im Zustand von Gnade, eine Erkenntnis oder Provokation? Ich denke nein, denn Persönlichkeit ist nicht als Luxus, sondern als Existenzbedingung und Lebenslust für Künstler zu verstehen und somit Voraussetzung, um im Bewußtsein und der Verpflichtung bzgl. der Notwendigkeit im Aufbau und Wachstum seiner angeborenen Kräfte zu leben. Darüber hinaus bedarf höchste Kunst keiner Erklärung, um sich zu erschließen, vielmehr erklärt sie sich in ihrer personifizierten Eindringlichkeit von selbst und vertraut darauf, ohne das Nichtverstandensein zu fürchten.

© Burkard Schliessmann, 2002


Seelenen-(Ab)-Gründe - November 20, 2002
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image "Bei denen, die nicht lieben, vertreibt Musik allen Hass. Dem Ruhelosen gibt sie Frieden, und den Weinenden tröstet sie. Die, die nicht mehr weiter wissen, finden neue Wege, und denen, die alles ablehnen, erwächst neue Sicherheit und Hoffnung". Trefflichere Worte über die unmittelbare und allumfassende Wirkung von Musik auf den Menschen, dessen Seele und Gemüt, konnte Pablo Casals kaum finden. Dass der Mensch ohne Musik in seinem Dasein unvollkommen ist, ob er sie nun in der Kunst oder in der Natur erlebt, wird bereits in Berichten des Alten Testaments (1. Sam, 16, 14ff) belegt, wo Saul durch Davids Saitenspiel geheilt wird und er den Geist Jahwes neu erfährt. In der griechischen Ethoslehre stellt die »Musike« den zentralen Baustein in der tugendhaften Heranbildung eines Menschen dar, welche mit dem umfassenden Phänomen der Kathartik zusammenhing. Platon und Aristoteles berichten von Heilungen vom Wahnsinn Besessener, welche durch das Vorspielen bestimmter Weisen zu einer derartigen Tanzwut angestachelt wurden, so dass eine Entladung der Affekte die Folge war. Ebenso die Naturvölker wußten bereits um die heilbringenden Kräfte der Musik. Ihrem Glauben nach wurden Krankheiten durch Dämonen oder böse Geister erregt. Diese zu vertreiben und den Kranken durch Reinheits- und Sühnevorschriften bzw. -riten ihrem verderblichen Einfluß zu entziehen, war seit jeher Aufgabe der Zauberpriester, Medizinmänner und Beschwörer. Gesang, Tanz und insbesondere der Rhythmus spielten dabei eine wesentliche Rolle. In der Neuzeit erlangten die Urkräfte der Musik zunehmend wissenschaftliche Fundierung und wurden als therapeutische Methode der angewandten Psychologie in Form von spannungslösender und kontaktbildender Heilmaßnahme eingesetzt. A. Kircher schreibt 1673, "Die Musik öffnet die Luftlöcher des Körpers, aus denen die bösen Geister ausziehen können". Heute ist Musiktherapie eine wesentliche Erkenntnis der modernen Medizin, an der auch Heilpädagogik und Beschäftigungstherapie zur Behandlung von funktionalen, psychsomatischen und zerebralen Störungen, Neurosen, Suchkrankheiten bishin zu geistig zurückgebliebenen und bewegungsbehinderten Menschen, v.a. Kinder, beteiligt sind.

Allen Methodiken liegt also die letztendliche Erkenntnis der »Befreiung« und »Loslösung« auf Basis der »Hinwendung« zugrunde. Bernt von Heiseler definierte diese Einsicht, "Das ist Musik: Sie befreit dich, indem sie dich tiefer bindet"; Hermann Hesse, zeitlebens Suchender in Sachen »Wahrheit«, welche er gemäß eigenem Bekenntnis letztlich nur in der Musik fand, bestätigte, dass ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Tönen bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, was für ihn immer einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung allen Lebens bedeutet.

Musik als Trost, aber auch Ausdruck der Zuversicht, der Hoffnung. Die »Angst vor dem Ende« beschäftigte auch die großen Komponisten: Nicht nur als liturgische Musik oder als prunkvolle Auftragsmusik, sondern über den gegebenen Anlaß hinaus zu einer demütigen Vorbereitung auf den Tod, quasi als Huldigung, entstand die Form des »Requiems«. Höhepunkte der Requiem-Vertonungen sind das Mozartsche (unvollendete) Requiem, in welchem sich freimaurerisch-humanitäres Ethos und katholische Frömmigkeit zu einem Bach und Händel verpflichteten Reifestil vereinigen, sowie das »Deutsche Requiem« von Johannes Brahms. Gerade hier scheint der Begriff der »Tröstung« neuen Sinn und Inhalt gefunden zu haben, wenn der Choreinsatz im 5. Satz die von Brahms selbst gewählten und zusammengestellten Textstellen "Ich will Euch trösten" intoniert. Ausdruck für die Sicherheit der geretteten Seele und Ruhefindung in Gott ist jedoch die große Chor-Fuge über den Text "der gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an". Der unterlegte Orgelpunkt auf D unterstreicht diese "Sicherheit", symbolisiert aber auch gleichermaßen die Verbundenheit und den Zusammenhang zwischen dem Überirdischen mit dem Irdischen.

Brahms selbst scheint diese Sehnsucht nach Tröstung in seiner ihn stets prägenden Melancholie besonders beschäftigt zu haben, zu welcher er in Form einer besonderen Schwermut und Süß-Verhangenheit in seinen späten Intermezzi für Klavier zurückfand: So zitiert er im homophonen Mittelteil des ätherisch anmutenden Intermezzos op. 118 Nr. 2 ein weiteres Mal den Chor-Einsatz des 5. Satzes "Ich will Euch trösten". Eine Referenz an sein bereits 1868, also fast 20 Jahre früher, entstandenes Werk.

Musik als besondere Dimension, welche uns das wahre Wesen der Welt so tief und unmittelbar erkennen läßt. E.T.A. Hoffmann's Vision greift soweit, dass "sie dem Menschen ein unbekanntes Reich erschließt, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinneswelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben."

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2002


In dulci jubilo - December 23, 2002
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image «Unsere grössten Erlebnisse sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.» Jean Pauls Einsicht setzt auf Verinnerlichung, auf Hineinhören in sich selbst, quasi einer Meditation. Rückbesinnung in Form einer Erwartungshaltung trifft die eigentliche Stimmung der Advents- und Weihnachtszeit sehr genau.

Joh. Seb. Bachs "Weihnachtsoratorium", BWV 248 und Händels "Messias" verkörpern seit jeher den Inbegriff von «klassischer Weihnachtsmusik» und sind im Konzertrepertoire fest verankert. Pastorale Ruhe, aber auch lobpreisend-schmetternder Jubel wechseln sich hier gegenseitig ab und laden uns in dieser Zeit zu einem besonderen musikalischen Erlebnis ein.

Im Jahre 1741 komponierte Händel innerhalb weniger Tage den Messias, der im folgenden Jahr unter seiner Leitung in einer Konzerthalle in Dublin uraufgeführt wurde. Das Werk wurde nicht für den gottesdienstlichen Gebrauch verfaßt, doch dienten, auch später in England, zu Händels Lebzeiten die Aufführungen stets wohltätigen Zwecken. Der Text wurde wahrscheinlich von seinem Freund und Gönner Charles Jennens, sicher unter Händels entscheidender Mitwirkung, höchst feinsinnig aus Worten des Alten und Neuen Testaments zusammengestellt.

Der Messias ist kein Oratorium im herkömmlichen Sinne, sowohl was den Text als auch was die Musik betrifft, repräsentiert es vielmehr ein sehr persönliches Werk, das im Gegensatz zu anderen großen Oratorien der Musikgeschichte die Gefühle und Gedanken eines Einzelnen ausdrückt - also kein Vorbild im Glauben darstellt.

Die Hauptfigur tritt nicht als handelnde Person auf; vielmehr wird dem biblischen Messias-Gedanken, der Idee der Erlösung durch den liebend-opfernden Heiland, in hoch vergeistigter Form Ausdruck verliehen. Das Werk besteht aus drei Teilen. Im ersten werden Prophezeiungen des Alten Testaments, in denen dem Volk Gottes das Kommen des Erlösers verheißen wird, auf Jesus bezogen, von dessen Geburt in der Stadt Davids erzählt wird. Der zweite Teil berichtet von Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi, er schließt mit dem vielleicht berühmtesten Stück Händelscher Musik, dem grandiosen "Halleluja"-Chor, der in England solche Verehrung genießt, dass er bis heute stehend angehört wird. Im dritten Teil endlich wird der Sieg des Lebens über den Tod besungen und christlicher Heilszuversicht Ausdruck verliehen.

Die Komposition ist von größtem Reichtum der musikalischen Erfindung und Gestaltung. Sie vereint von englischen und deutschen Traditionen bis hin zu italienischen und opernhaften Zügen, von Rezitativ und Arie bis zu neu gefundenen Formen solistischer wie chorischer Art die verschiedensten Elemente.

Joh. Seb. Bachs Weihnachtsoratorium (1734) hingegen ist strikt auf «geistliche Werte» abgerichtet - hierin unterscheiden sich auch beide Komponisten in ihrem gesamten kompositorischen Schaffen. Das Werk besteht aus sechs Teilen (Kantaten), deren Aufführungen für den ersten, zweiten, dritten Weihnachtstag, für Neujahr, für den Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest festgelegt sind. Der Text ist unbekannt, man nimmt aber an, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Picander der Dichter der Arien- und Chortexte ist. Grundlage des Textes ist der biblische Bericht von der Geburt Christi bis zu den Erscheinungen der heiligen drei Könige. Die Partitur enthält eine große Anzahl aus früheren, weltlichen Kantaten entnommener Sätze ("Laßt uns sorgen, laßt uns wachen", "Tönet, ihr Pauken, erschallet, Trompeten", 1733), welche mit der in dieser Zeit üblichen Kompositionstechnik des sog. Parodieverfahrens umgearbeitet wurden.

Bachs Komposition beschränkt sich auf die Freude, auf den Jubel. Bereits der einleitende Chorsatz "Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage" vermittelt diese Stimmung. Die berühmte Bass-Arie "Großer Herr, o starker König" unterstreicht mit ihren hellen Trompetenklängen den Glanz und die Schönheit des göttlichen Heiligtums, fast so, als wenn dieser Euphorie nichts entgegengesetzt werden könnte.

Bachs kompositorisches Schaffen umfasst jedoch alle emotionellen Affekte und deutet in seinen geistlichen Kantaten und den Choralvorspielen für Orgel den gesamten biblischen Jahreskreis. Mit dem schlichtlauteren Choralvorspiel "Das alte Jahr vergangen ist" (BWV 614) aus dem «Orgelbüchlein» symbolisiert Bach anhand sechs aufeinander aufwärtsschreitender Halbtöne mit den nachfolgenden sechs abwärtsgehenden Tönen die zwölf Monate eines Jahres. Die eingeschweißte chromatische Harmonik versinnbildlicht dabei die Schmerzen des zurückliegenden Jahres, der "offene" Plagal-Schluß in E-Dur läßt die Hoffnung auf Neues, quasi einer Frage, im Raum stehen.

Die Antwort folgt prompt: Die Neujahrsmusik "In Dir ist Freude", BWV 615, sprengt die Form des Orgelchorals und weitet sie zu einer kleinen Fantasie, deren strahlender Optimismus die Freude des Weihnachsoratoriums wieder aufnimmt.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2002


Leiden(schaften) - August 2, 2003
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image Es ist eine altbekannte Tatsache, dass das Genie, der bedeutende Mensch, nahezu immer ein tragisches Leben hat und in einem fahlen Licht der Untergangsnähe lebt.

Die belletristische Literatur untermauerte diese Meinung stets und ist oft geneigt, die Erschaffer von unumstrittenen Meisterwerken der abendländischen Kunst in die Nähe des leidenden Asketen zu rücken. Frédéric Chopin beispielsweise bezeichnete man als »tuberkulösen Schmerzensmann« und »schwindsüchtigen Salonromantiker«, Mozart und Schubert als stets am Rande der finanziellen Existenz stehende, brotlose Künstler. Bewegt fragt sich da doch mancher, warum unter diesen Lebensumständen denn »Produkte« möglich waren, die nicht nur Jahrhunderte überdauerten, zu immer wieder neuen Diskussionen herausforderten und heute jedermann bekannt sind, sondern auch auf Auktionen zu Höchstpreisen ersteigert werden. Oder ließe sich denn auch der umgekehrte Schluß zu, dass es gerade die Niederung dieses menschlichen Daseins war, dieser Gegenpol, der sich als ein furchtbares Mißgeschick, als ein großer, aber auch kühner, wenn auch nicht ganz geglückter Wurf der Natur erkannte und darin sogar akzeptierte?

Einsamkeit, Leiden, Entbehrung als Ausgangspunkt und Inspiration für »große Kunst«? Aber liegen darin nicht auch Leidenschaft und Passion? Hier finden wir nämlich jenen anhaltenden und starken Antrieb, der das Fühlen, Wollen und Handeln eines Menschen unabhängig von oder gegen die Einsicht der Vernunft bestimmt, aber auch als intensives, die gesamte Persönlichkeit beeinflussendes Engagement bei der Verfolgung rationaler Ziele bestehen kann. Quasi eine Art Lebensfluß, dessen Quelle stets neue Kräfte liefert.

Leidenschaft und Passion, hervorgerufen durch Affekt, als Ausdruck einer Gemütsbewegung aller Extreme: Freude, Wut, Begeisterung, Angst. Bereits Aristoteles verstand unter Affekt alle seelischen Regungen, die von Lust und Schmerz begleitet waren, und Nietzsche erhebt sie zu einer lebensphilosophischen Rechtfertigung, indem er Leidenschaft mit dem Willen zur Macht verbindet. Der dänische Philosoph SØren Kierkegaard geht noch weiter, denn für ihn bedeuten Leidenschaft das Höchste der Existenz, welche die objektive Ausrichtung auf das objektiv Ungewisse (Gott) bezweckt. Unter diesem Blickwinkel begreift man auch, dass er als Kind einst den Berufswunsch »Märtyrer« geäußert haben soll.

Erstaunlich, welch großen Radius der Wandlungen in Akzeptanz, aber auch Ausdeutung die Affektenlehre im Laufe der Zeiten in der philosophiegeschichtlichen Betrachtung erfahren hat: Im Anschluß an Platons Seelenlehre definierte Stoa im »Timaios« Affekt und Leidenschaft als unvernünftige Seelenzustände, durch die die natürlichen Regungen zerstört würden; für Heidegger hingegen bringt Leidenschaft erst wahre Dauer und Beständigkeit in unser Dasein.

Leiden, Leidenschaft und Passion also als Ausdruck von Lebensgefühl und somit Authentizität? Unbedingt.

Denken wir doch hierbei an die großen Meisterwerke von Beethoven, dessen Oeuvre geradezu ein demonstratives Musterbeispiel an subjektivierter, personifizierter Darstellung und Verkörperung seines eigenen Lebensweges ist: Aus den Niederungen der realen Welt entführt verursachten seine humanitären Ansichten eine Läuterung zu höherem Bewußtsein. Es war die einzigartige Betrachtung der Welt und die eigenwillige Definition eines Kunstwerkes als einer Zusammenfassung von Erkenntnis, nämlich als Offenbarung von persönlichem Wissen und Erfahrung, welche die Kunst auf eine neue Ebene des Selbstausdruckes hob, als ein Aspekt menschlicher Wirklichkeit. Ausgehend von jäher Meisterschaft und demonstrativer Sicherheit seiner frühen Werke über die Phase absoluter und absichtsvoller Musik bishin zur Komplexität des Spätwerkes, blieb sein Schaffen stets ein Bekenntnis der ureigensten Form, eine Grenzüberschreitung.

Menschliche und künstlerische Entwicklung bedingten einander - im letzten Satz der neunten Symphonie, dem Chorsatz, wendet sich Beethoven mit einer Botschaft an den Menschen und verarbeitet eindrucksvoll Schillers »Ode an die Freude«: Eine trotz aller Leiden, Entbehrungen und Verluste lebensbejahendere Form des Ausdrucks hat es in dieser Form noch nicht gegeben. "Freunde, nicht diese Töne ...!" - exemplarisch blieb dieser Appell, nicht nur in der einzigartigen, kompositorischen Verschmelzung von Literatur und Musik, sondern unüberschätzbar in seinem humanitären Ziel in der Zusammenführung von Menschen und Nationen, ein in unserer heutigen Zeit mit neuer Aktualität nicht mehr wegzudenkendes Postulat für politisches und ethisches Bewußtsein.

Kunst als Betrachtung der Welt im Zustand von Gnade, Genie als Liebeskraft, als Sehnsucht zur Hingabe: Es war die Akzeptanz von Extremen, welche die Meisterwerke großer Künstler entstehen ließ, es waren hervorgebrachte Exzesse, Spiegelbilder ihrer jeweils explosiven Zeit, ihrer Menschen ...


© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2003


Geldschein-Sonate? - October 21, 2003
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image Komponieren als Brotberuf? Die wirtschaftliche Lage der Komponisten sah stets ausgesprochen unterschiedlich aus, zumal die berufliche als auch gesellschaftliche Stellung der Komponisten und Kunstschaffenden gemäß der epochalen Entwicklung andersartige Etablierungen erfuhr bzw. auch zuließ.

Standen in der Zeit der «Wiener Klassik» Komponisten zumeist in höfischen Diensten und konnten sich der finanziellen Zuwendungen ihrer Gönner sicher sein, waren in der Romantik Komponisten bereits in der Lage, im letztendlichen Sinne «freischaffend» tätig zu sein.

Vergegenwärtigen wir uns kurz einmal die finanziellen Verhältnisse einiger großer, historischer Komponisten: Joh. Seb. Bach kam mit 38 Jahren als Thomaskantor nach Leipzig und verdiente als Kirchenmusiker, Lateinlehrer und Kapellmeister um 1730 etwa viermal so viel wie ein Pfarrer und weit mehr als ein Arzt. Zu seinem festen Einkommen von 700 Talern stand ihm gratis eine Dienstwohnung mit 9 Zimmern zur Verfügung; Graf Keyserling bedachte ihn für seine Goldberg-Variationen mit 500 Talern. Bach war zu seiner Zeit bereits ein "reicher Mann"; er wäre es aber auch heute, würde man sein Vermögen unter hiesigem Blickwinkel betrachten und auf derzeitige Verhältnisse transferieren.

Joseph Haydn wurde mit 29 Jahren zum «Hofkapellmeister auf Lebenszeit» beim Grafen Esterhazy in Eisenstadt ernannt. Dabei erhielt er bis 1790 ein wahrhaft fürstliches Salaire von 1000 Gulden jährlich, danach sogar 1.400 Gulden. Der Vergleich mit einem Oberwundarzt im Wiener Spital erhellt das Gemeinte: Dieser erhielt 800 Gulden. 1791 und 1795 verdiente Haydn bei 2 Konzertreisen nach England 24.000 Gulden.

Johannes Brahms konnte es sich leisten, mit seinem Wohlstand, zu dem u.a. Ferienwohnungen in Baden-Baden, am Wörthersee, Thunersee und in Bad Ischl zählten, befreundete Musiker (beispielsweise Clara Schumann und deren viele Kinder) zu unterstützen. Seine Schüler unterrichtete er kostenlos. Für seine 4. Symphonie verlangte und erhielt er von seinem Verleger 40.0000 Goldmark. Unter dem Aspekt, dass die Mark damals mindestens zehnmal so viel wert war wie heute, erregt es Bewunderung, dass seine Haushälterin mit 5.000 Mark testamentarisch bedacht wurde. Insgesamt hinterließ er ein Vermögen von 400.000 Mark, eine Bibliothek mit wertvollen Erstausgaben, Kunstblätter und musikalische Manuskripte sowie einen Flügel von Robert Schumann.

Der Erfolg der Oper «Salomé» ermöglichte Richard Strauss den Bau seiner Villa in Garmisch und Maurice Ravel konnte sich die letzten 20 Jahre sein eigenes Landschlößchen "Montfort-l'Amaury" leisten.

Dass große Komponisten aber auch bitterste Armut erfuhren, kennen wir insbesondere bei Mozart und Schubert. Obwohl Mozart als «Kaiserlicher Kammermusicus» mit einem festen Honorar von 800 Gulden rechnen konnte und ihm weitere Einnahmen aus eigenen Konzerten und Opernaufführungen («Don Giovanni» brachte ihm in Prag alleine 400 Gulden ein) sicher waren, liegt die Vermutung nahe, dass falsches Haushalten und Spielschulden ihn in den Ruin trieben.

Schubert war eine feste Anstellung als Musiker nie gegönnt. Bewerbungen um den Posten des Vize-Kapellmeisters in Wien 1826 schlugen fehl. Obwohl seine Werke, insbesondere die Lieder, in Wien sehr rasch zu großer Popularität gelangten, war er stets auf die finanzielle Unterstützung seines Freundes, dem Litographen-Händler Franz v. Schober, angewiesen: Von Wiener Verlegern wurde sein Œuvre nur gegen minimales Honorar veröffentlicht, andere Werke zu Lebzeiten gar nicht erst veröffentlicht oder aufgeführt: Die «Unvollendete Symphonie» kam erst 30 Jahre nach Schuberts Tod zu Ehren und der Schweizer Verleger Nägeli lehnte die Veröffentlichung einer Klaviersonate ab, für die Schubert 150 DM verlangte. Für Breitkopf und Härtel, Leipzig, erschien die Herausgabe unter wirtschaftlichem Aspekt sinnlos, und die «Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung» beurteilte Schuberts Lieder als nicht "strophisch genug".

Gerade im Fall von Mozart und Schubert scheint sich die Erkenntnis aufzudrängen, dass für außergewöhnliche Individualisierte das Leben ein steter Kampf zwischen Opfer und Trotz, zwischen Anerkennung der Gemeinschaft und Rettung der Persönlichkeit ist. Eine allgemeine Schwierigkeit, vom Komponieren zu "leben", damals wie heute, ist jedoch, dass - im Gegensatz zum Komponisten - ein bildender Künstler, ein Maler, etwas unmittelbar Verkäufliches schafft. Etwas, was für den Käufer einen visuellen Wert hat. Damit eine Komposition ein Einkommen garantiert, muß es gedruckt, verlegt und mehrfach aufgeführt werden. Schlimmstenfalls kann der Komponist den Erfolg seines eigenen Opus gar nicht mehr erleben, denn der Ertrag muß mit Verleger und den Ausführenden geteilt werden.

Seit 1903 sichert die GEMA, gegründet und eingerichtet von Richard Strauss, die Aufführungsrechte aller Komponisten, welche eine Beteiligung des Komponisten an jeder Aufführung seiner Werke ermöglicht.

Damit auch weiterhin ein Fortbestehen des Komponierens und damit der Weiterentwicklung der «Neuen Musik» gewährleistet ist, braucht und verlangt unsere Zeit nicht geschicktes Beamtentum und Betriebsamkeit, sondern Persönlichkeit, Gewissen, Verantwortlichkeit und Mut. An Intellekt, an «Talent» ist Überfluß.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2003


Unsere Besten - November 22, 2003
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image Die Jagd auf Einschaltquoten und inszenierte Sensationen, egal welchen Niveaus, kennt keine Grenzen: «Deutschland sucht den Superstar», jene alle Quoten sprengende und gemütererhitzende Super-RTL-Show, welche nun bereits in die zweite Staffel läuft, erhält mit ihrem Star-Gerangel eine Konkurrenz vom ZDF, die Suche nach "Deutschlands Besten". Erneut wird die Entscheidung dem Zuschauer überlassen, sogar diejenige, wer die Liga der Top-Ten bestimmt. Da muß es doch zu gewaltigen Überraschungen kommen, vor allem dann, wenn der objektive Betrachter staunend mitverfolgt, wie eine Diskussion, ob denn nun Adenauer oder Brandt die «Nummer Eins» der Deutschen schlechthin sein soll, eine Welle von jeweils opportun-begünstigenden Anrufen auslöst, die gleichzeitig Jahrhundert-Persönlichkeiten, beispielsweise Goethe, Luther und Bach auf einen hinteren Platz verweisen. Adenauer und Brandt, unumstritten zwei bedeutende Staatsmänner und unverzichtbar deren politische Leistung, aber greift deren historische Bedeutung nicht zu kurz im Vergleich zu anderen, einige Jahrhunderte früher dagewesenen Persönlichkeiten, deren schöpferisches Wirken die Weltbilder ganzer Generationen entscheidend prägte oder gar neu schuf und deren Prägung nicht nur unverzichtbar, sondern vielmehr durch evtl. andere Figuren unersetzbar gilt? War es nicht Luther, der uns ein Tor zur Neuzeit öffnete, einen neuen "Freiheitsbegriff" definierte und somit die «Zeit der Aufklärung» einleitete? Ob Reformator oder Revolutionär, sein Mut und die Bereitschaft zur Verfolgung bleiben Vorbild, dem Mächtigen mit dem Zeugnis der Wahrheit entgegenzutreten. Hineingeboren in eine Zeit explosiver Expressivität, schuf er auch den geistigen und kulturellen Nährboden für andere Schaffende, beispielsweise Joh. Seb. Bach, dessen Œuvre im Protestantismus fest verwurzelt ist.

Am Ende einer großen schöpferischen Musikepoche entstanden, durch Geist und Form in der Vergangenheit wurzelnd, aber durch kühne divinatorische Behandlung des Tonmaterials weit in die Zukunft vorausdeutend, sind Bachs Werke eine Brücke, die weit entferntere Bereiche der Musik miteinander verbindet und allen späteren Generationen das Verständnis für die musikalische Vergangenheit erhält. Aber wichtiger als ihre historische Bedeutung ist ihr absoluter, musikalisch-geistiger Wert. Immer, seit seiner Wiederentdeckung durch die Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts, ist Bach als Musiker schlechthin, als Inkarnation des überpersönlichen, überzeitlichen Musikgeistes bewundert und gefeiert worden. Es ist schwer, dieser besonderen und unvergleichlichen Eigenschaft seiner Musik mit Worten nahe zu kommen. Die Distanzierung vom Ich, die der Romantik so schwer fiel, war ihm noch durch alte Kunsttradition unmittelbar gegeben. Niemals spricht er von sich, von individuellen Leiden und Freuden. Immer ist er Beauftragter übergeordneter Mächte: Mittler religiöser Offenbarung in seinen kirchlichen Werken, Diener gesellschaftlicher Konventionen in seiner weltlichen Suitenkunst, Vollstrecker musikalischer Entwicklungen und Entscheidungen in seinen freien, nicht zweckgebundenen Kompositionen, vor allem in den Präludien und Fugen des "Wohltemperierten Klaviers" – berufen durch eine tiefe schöpferische Intuition für das Wesen musikalischer Urvorgänge, für das Leben und Wirken der melodischen Linie, die ihm das Zeitalter der alten Polyphonie als Werkstoff vererbte und die er, ein souveräner Meister thematisch-plastischer Gestaltung, der neuen, human bestimmten Kunst der Klassik entgegenführte. Die unvergleichliche Größe Bachs beruht ebenso auf seinem Genie wie auf seiner musikgeschichtlichen Stellung und Funktion. In seinen Werken fließen Kraftströme zusammen, die aus den entlegensten Formen der Vergangenheit, von den Anfängen der vokalen Polyphonie herkommen. Die Kraft der selbstständigen melodischen Linie, der Urimpuls aller Musikübung, ist in seiner Musik ungebrochen wirksam geblieben und erfüllt seine Fugensätze mit niemals aussetzendem thematischem Fluß. Der architektonische Geist der Gotik wirkt in seinen Formen nach, die wie kühne, phantastische Bauten im imaginären Raum des Klanges stehen. Das Einverständnis mit dem Transzendenten, durch mystische Versenkung und ekstatischen Aufschwung erreicht, ist Erbe dieser religiös erregten Epoche.

Es relativiert sich von selbst zu erkennen, dass Kunst irgendein Platz in einer "Rangliste" zugewiesen werden kann wie es auch überflüssig ist zu erklären, wie direkt und indirekt die abendländischen Errungenschaften voneinander abhängig sind, sich gegenseitig ergänzen, einander bedingen oder gelegentlich auch ausschließen und somit auch die Diskussion um irgendeinen zugewiesenen Platz der Favoriten unnötig ist: Ohne Gutenberg, den Urvater der Kommunikation, wäre eine Verbreitung geistigen Wertgutes überhaupt nicht möglich gewesen. Doch müßte ich eine Patenschaft und ein Plädoyer für einen Komponisten der Top-Ten-Liste übernehmen, dann wäre dies Joh. Seb. Bach.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2003


Die hohe Kunst in der Musik - August 7, 2004
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image Liest man die Biographien einst großer, heute leider nicht mehr unter uns weilenden Künstler und Interpreten, so ist es immer wieder die große Aura, die diese Menschen als wirklich einzigartig erscheinen läßt, einerseits unter dem Blickwinkel ihrer eigenen Lebenszeit, da 'Aura' hier im Sinne des Benjamin'schen Begriffs auch die Wechselwirkung ihrer persönlichen Aura meint, nämlich auch die große Tradition, die wie ein Sog auf sie einwirkte, sie diese ungeheuer vorherrschende Kraft in geradezu polarisierende Elektrizität bannten und somit Kunst als «Gesamtkunstwerk» enstehen ließen. Kunst also als ständig pulsierendes Medium, im Widerspiel persönlicher und soziologischer Affekte. Andererseits hält noch aus heutiger Sicht die Faszination dieser Kunst an und steht - quasi exemplarisch - erhaben als Vorbildfunktion für wenig Verbliebene. Wiederum ist es die radikale Hervorbringung des Inneren, welche als dynamisch sich entrollender Prozess im Vordergrund der künstlerischen Betrachtung für Interpreten bestimmend und verpflichtend sein sollte.

Wie sieht jedoch die Verwirklichung solch hoher künstlerischer Wertvorstellungen in unserer heutigen Kulturlandschaft aus? Droht der Kunst nicht die Entartung zur - um mit den Worten Adornos zu sprechen - «Kulturindustrie»? Längst ist der Konzertbetrieb zum gesellschaftlichen Event geworden, wo es kaum noch um die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Inhalt, dem Hintergrund des Kunstwerks als solches, geht. "Es muß gefallen", diese Prämisse zählt vor allem für Veranstalter in der Gestaltung ihres Programms.

Doch können in einer Zeit mit schwindenden oder teilweise bereits leeren Kassen Veranstalter, die mit äußersten Bemühungen - der finanziellen Talfahrt zum Trotz - Musikfestivals, Sommerfestspiele und Freiluftkonzerte auf die Beine stellen, für nachlassende Qualität in der Kunst und deren Weitervermittlung verantwortlich gemacht werden? Wohl kaum. Vielmehr ist deren unternehmerischer Geist zu belobigen und die Idee, neues Publikum für die längst in die Krise geratene klassische Musik zu gewinnen. Doch braucht man junges Publikum? Und dies um jeden Preis? Diese Frage wird aufgeworfen in unmittelbarem und aktuellem Zusammenhang um die (beinahe) skandalumwobene Schlingensiefsche Neu-Inszenierung des «Parsifal» von Richard Wagner in Bayreuth: Dieses Alterswerk von Richard Wagner fordert geradezu ein Bewußtsein bzgl. der Verantwortung in der Beurteilung hinsichtlich der Zulässigkeit einer Ausweitung und Öffnung in Richtung einer andersgearteten und - möglicherweise - sinnentstellenden Inszenierung. Zugegeben, die sakrale Intention als «Bühnenweihfestspiel» und die ins Christliche gewendete Erlösungsidee hatte von Anfang an schärfste Kritik, insbesondere von Nietzsche, erfahren. Diese betrifft jedoch die Komposition selbst. Fragwürdig erscheint jedoch, ob die weihevolle Ruhe als eingeschweißte Grundtönung des Werks, von der sich Verzweiflung und Leid, Sinnlichkeit und Sünde als erschütternde Kontraste abheben, regiemäßig karrikiert werden darf. Damit sind nämlich musikalisch die der eigentlichen Dramaturgie entsprechenden flächige Wirkung hymnischer Akkordik und weitgespannter melodischer Linien und, als Gegensatz hierzu, intensive Chromatik und Alterationsharmonik zur Darstellung des Heillosen und der Sehnsucht nach Erlösung außer Kraft und Funktion gesetzt. Wirft man einen Blick auf die historische Bedeutung des «Parsifal», so steht außer Frage, dass die polyphone Durchzeichnung des Orchestersatzes und die gelegentlich herbe, funktional kaum noch deutbare Harmonik die kompositorische Entwicklung des 19. Jahrhunderts bedeutsam geprägt haben. Ohne Beispiel in der Bühnenliteratur ist jedoch die doppelgesichtige Rolle der Büßerin und Verführerin Kundry, deren Gesangspart Extrembereiche vom Flüstern und Stammeln bis zum wilden Schrei berührt und dadurch nachhaltig auf spätere Opernkompositionen, beispielsweise Salome von Richard Strauss oder Wozzeck von Alban Berg eingewirkt hat. Ein Bruch mit dieser Tradition ist nicht nur ein Bruch mit der hier geforderten Werktreue Wagners, sondern auch der Kunst im Sinne des ästhetischen Wertbegriffs wenig förderlich. Im Gegenteil, die Kunst wird hier um einen wesentlichen Anteil, nämlich um ihren wahren Charakter, regelrecht betrogen. Bühnenwerke mit diesen klar vorgezeichneten Intentionen und einem so deutlich einkomponierten «Credo» erlauben keinerlei "Experimente". Dazu eignet sich das «experimentelle Musiktheater».

Damit beantwortet sich die Frage, ob junges, neues Publikum in der Kunst benötigt wird: Ihm ist der Mut zu wünschen, dilletantische Aufführungen entsprechend zu quittieren, ansonsten hätte es seine Aufgabe verfehlt. Große Kunst entsteht und lebt im Dialog zu ihrem Publikum.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2004


Musik: Wer ist unser Bester? - October 23, 2004
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image Eine neue Version in der Jagd auf Einschaltquoten erhitzte unlängst die Gemüter der Zuschauer: Die Diskussion um Deutschlands beliebteste und besten (?) Bücher. Mehr oder weniger profilierte Persönlichkeiten übernahmen die Patenschaft für ihr persönlich liebstes Autorenwerk, und schwupp mußte man erstaunt feststellen, wie unterschiedlich dabei historisch wertvolle Werke, die das Erbe der Weltliteratur bedeutsam geprägt haben und in ihrer einst revolutionären Thematik ganze Generationen nachschaffender Schriftststeller beeinflußten, polarisierten oder gar spalteten, in der Beliebtheitsskala heute rangieren. Ob dies auch ein Hinweis auf die Möglichkeit einer Aktualisierbarkeit mit dem heutigen Zeitgeist ist? Wohl kaum, denn die Thematik eines «Faust» von Goethe beispielsweise ist mit jeder zeit- und geistesgeschichtlichen Strömung vereinbar; Thomas Mann forderte die Beschäftigung mit dem «Ur-Faust» einst zu seinem Lebenswerk, 'Doktor Faustus', heraus. Doch ein wesentliches Kriterium mißachteten die Designer der ZDF-Show in der Planung und Umsetzung ihrer Thematik: Die persönlichen Präferenzen unterlagen keiner strengen Kategorisierung und Unterscheidung der verschiedenen Epochen, Sparten und Themengebiete der Literatur, was das mehr als fragwürdige Nebeneinander von Trivial- und hochklassischer Werke einherbrachte.

Ebenso sinnlos wäre eine Betrachtung und Kategorisierung von "Lieblingswerken" in der Musik, die im Laufe der Zeiten die Entwicklungen aller Epochen und Generationen gleichsam ein Spiegel der Weltgeschichte selbst ist und somit zu einem großen Ganzen verschmilzt. Wie groß ist dabei die Vielzahl der Instrumente, die mit ihrer eigenen Sprache ein spezifisches Solo-Repertoire in der Instrumentalmusik darstellen, wie groß der Bereich der symphonischen, der Orchester- Musik? Persönliche Präferenzen greifen da viel zu subjektiv, als dass die Nominierung und Bewertung einzelner Werke gerechtfertigt wäre. Wie wäre beispielsweise die "Trauermarsch-Sonate" eines Chopin in unmittelbare Nähe einer symphonischen "Pathétique" von Tschaikowsky zu platzieren, wo es ja noch die beliebte "Pathétique" von Beethoven gibt? Nein, eine solche Rangierung bleibt sinn- und bedeutungslos.

Doch es gibt ein Werk, was bereits in seiner kompositorischen Anlage losgelöst ist von jeder instrumentalen Zugehörigkeit sowie Gattung und in seinem visionären Duktus beinahe schon als Fiktion wahrgenommen werden kann, und dies in einer solch eindringlichen Weise, dass man unmittelbar an Schopenhauers Idealvorstellung von Kunst und Musik denken möge, nämlich das ureigenste Anliegen großer Musik darin verwirklicht zu sehen, deren Wesen im Jenseits des Gemüts zu vernehmen und anzuschauen: Es ist die «Kunst der Fuge» von Joh. Seb. Bach. Zweifelsohne ein Jahrhundertwerk, welches eine lebenslange Beschäftigung und Auseinandersetzung erfordert.

In der wirkungsvollen Verbreitung des Werkes fungierte Carl Philipp Emanuel Bach als geschickter Promoter und brachte wohl manche Geschichte in Umlauf, die die mythische Aura der Komposition unterstrich. Ein Gerücht zum Beispiel besagt, dass Bach Senior die Arbeit an der vermeintlich letzten und unvollendeten Fuge unterbrach, um noch den Choral "Wenn wir in höchsten Nöthen sein" als geistige Überhöhung der Sammlung zu schreiben. Belegen kann das keiner, ebenso wenig wie die vielen anderen Vermächtnis-Legenden, die sich um die "Kunst der Fuge" ranken.

Johann Sebastian Bach selbst nahm sich die Sammlung sehr unterschiedlicher Motivbearbeitung über 13 Jahre hinweg immer wieder vor. Die ersten Fugen entstanden um 1737, die letzten einschließlich der unvollendeten Nr. 18 um 1749, kurz vor dem Tod des Komponisten. Auf vier Syteme komponiert, hinterläßt die Partitur allerdings keinerlei Angaben, wie man mit der ursprünglich allem Anschein nach für Cembalo konzipierten Zusammenstellung umgehen solle. Es fehlen klare Aussagen über die Reihenfolge der Fugen. Vier davon sind als Kanon gestaltet. Es gibt die Theorie, die Stücke seien eigentlich "Augenmusik", nicht zur Aufführung, sondern zum logischen Nachverfolgen an der Partitur gedacht. Die Tempi sind variabel, die Instrumentierung erlaubt eine Umsetzung auf Klavier, Orgel oder Cembalo ebenso wie im Orchester oder Streichquartett. Es ist noch nicht einmal wahrscheinlich, dass Bach der Sammlung den heutigen Titel gegeben hat, weil ihm die Anspielung auf die "Kunst" viel zu hochtrabend gewesen sein dürfte. Aus kulturhistorischer Perspektive liegt eher der Gedanke nahe, dass die Kompositionen Versuche waren, sich behutsam von der Funktionsorientierung seines Berufs zu lösen, die ihm bestimmte Werke oktroyierte - wenn man so will, ein frühaufklärerischer Schritt in die kreative Freiheit.

Fest steht allerdings, dass die "Kunst der Fuge" ihren Titel zurecht hat. Denn die Konsequenz der strukturellen Gestaltung sucht in der klassischen Tradition ihresgleichen.

In der Frage einer dennoch möglichen Interpretation liegt meine persönliche Präferenz in der Form des Streichquartetts: Gegenüber der Klavier- wie auch der Orchestervariante bietet sie sich aufgrund ihrer klanglichen Transparenz an, wobei die Klarheit des Stimmverlaufs durch die Verteilung auf vier Streichinstrumente unterstrichen wird, deren obertonreicher Charakter die Differenzierung der einzelnen Linien erleichtert und noch dazu vokale, gesangsnahe Qualitäten hat.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2004


Klassik-Radio: Bitte mehr Klasse - April 9, 2005
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image Die Zahl der Klassik-Sender in Europa und USA ist mannigfaltig, viele davon agieren als Bestandteil der «Öffentlich-Rechtlichen», andere werden in privater Mission durch Sponsoren-Gelder finanziert und getragen. Renommiertestes Beispiel dafür ist der in USA ansässige und ausschließlich auf klassische Musik spezialisierte TV-Sender «Classic Arts Showcase», der seine Gründung und Existenz dem Ehrgeiz eines kunstsinnigen und steinreichen Mäzens zu verdanken hat.

Oft wird dabei die Frage gestellt, nach welchen Kriterien die jeweilige Musik und die damit verbundenen Interpreten ausgesucht werden und welche Faktoren dabei die letztendlich bestimmenden sind, ob es beispielsweise primär um die Komposition in einer herausragenden Interpretation geht oder letzten Endes nur um die bloße Installierung eines neuen "Stars", den es gilt, mit allen nur möglichen Mitteln bekannt zu machen und durchzusetzen. Denn am Ende der Reihe in der Kommunikation steht der Hörer als Konsument, der als regelrechtes "Opfer" der medialen Flut von Informationen in der letztendlichen Konzentration und Auswahl oft überfordert ist. Fördern also portionierte Häppchen der getroffenen Selektion das Klassikverständnis der Zuhörer oder zerstören sie gar, fordern sie heraus oder behindern sie?

Zumindest die "Öffentlich-Rechtlichen" unterliegen einem offiziellen «Bildungsauftrag», auf den man sich schließlich berufen kann, doch besteht nicht auch da eine gewisse "Abhängigkeit" und wenn ja, gegenüber wem?

Die Beantwortung dieses Themenbereichs ist außerordentlich komplex und erfordert eine ganzheitliche Betrachtung: Stand früher die künstlerische Aussage als qualitätsbestimmendes Kriterium im Vordergrund, so ist es heute nur noch die Vermarktbarkeit eines Künstlers als Ware, die als karrierebestimmendes Element die Entscheidung der Funktionäre trägt. Am Ende der Kette stehen die großen Schallplattenfirmen. Wenige davon sind geblieben, und diese wenigen führen einen umso erbitterteren Kampf in der Rolle der Verteidigung und Vorherrschaft eines jeweiligen Reviers. Mehr denn je fungieren sie als «Schaltstellen» und entfernen Kunst und Künstler vom eigentlich Eigentlichen, nämlich dem nachschaffenden Prozess als Quelle gelebter und somit hervorgebrachter Kunst, der Inspiration. »Originale« sind dabei nicht besonders beliebt, bevorzugt wird das, was zweiter Hand entstammt. Dass man Neues nur dann mag, wenn es bereits verdaut und verändert, verkleinert und verzierlicht serviert wird, wußte bereits Hermann Hesse trefflich zu formulieren.

In dieser Hinwendung zur Leichtlebigkeit ist der Trend von Klassik-Pur zu Cross-Over längst ein Weg geworden, um leere Kassen wieder zu füllen. Nur was passiert mit dem Konsument, der Cross-Over als Klassik-Pur verkauft bekommt? Ein Blick hinter die Kulissen bestätigt, dass "Meinungen" dabei einer strengen Diktion unterliegen, welche die Entscheidungsfreiheit der Redakteure, Kritiker, Agenturen, Veranstalter und zu guter Letzt der Zuhörer beeinflußt, ja sogar einschränkt.

Ein Teufelskreislauf, der in einer gegenseitigen Abhängigkeit endet. Blickt man auf die Neuerscheinungen der Plattenfirmen, so sind es stets diejenigen der Majors, welche entsprechende Würdigungen in Funk und Presse erfahren. Die möglicherweise interessanteren und mutigeren Konzepte kleinerer Labels bleiben dabei oft unberücksichtigt. Parallel dazu werden in Zusammenarbeit mit den führenden Konzert-Agenturen die Künstler im Konzertleben omnipräsent platziert. Rundfunk, Klassik-Sender und Medien tragen pflichtschuldigst ihren Teil dazu bei, um dem verbliebenen Rest der Klassik das Überleben (vermeintlicherweise) zu ermöglichen. Wirtschaftliche Interessen also, die über Inhalt und Tiefe der künstlerischen Aussage gestellt werden.

Eine einseitige und fehlgerichtete Information für das Musik- bzw. Klassik-Verständnis des Zuhörers?

Kunstwerk und mediale Verbreitung können aber nur dann in sinnvoller Wertigkeit nebeneinander bestehen, wenn unter dem Anspruch und dem Bewußtsein gearbeitet wird, dass multimediale Konzepte und deren multiplizierte Informationen eine mögliche Mauer bilden, die das Volk vom Geist trennt. Dazu gehört Verantwortung, Mut zur Unabhängigkeit und die Erkenntnis, den Teufelskreislauf an der entscheidenden Stelle zu durchbrechen.

Dieses Bewußtsein ist jenen zu wünschen, die sich einem «Bildungsauftrag» verpflichtet fühlen.

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2005


Event und Niveau: Netrebko als neuer Star - September 10, 2005
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image Eines der denkwürdigsten, künstlerisch nachhaltigsten und medienmäßig meistbeachtesten konzertanten Events war die umjubelte Rückkehr von Vladimir Horowitz am 9. Mai 1965 auf das Konzertpodium der Carnegie Hall in New York. Nachdem Horowitz zwölf Jahre dem Konzertbetrieb ferngeblieben war, war es ein allmählicher Prozess, in welchem sich seine Interpretationen von der einst äußerlichen Virtuosität zu neuer künstlerischer Reife und Aussage entwickelten und er selbst nach der Zeit des Nachdenkens, Lehrens, Lesens, Ausruhens und Arbeitens aus seiner selbstauferlegten Abgeschiedenheit zum Rampenlicht zurückfand.

Sein Comeback war aber nicht nur ein künstlerisches, sondern auch gesellschaftsmäßig aufregendes Ereignis: Nach Bekanntgabe des Termins war binnen zwei Stunden das Kartenkontingent der Carnegie Hall ausverkauft; hunderte von Menschen hatten die regnerische, stürmische Nacht auf dem Gehsteig verbracht, um in den Besitz einiger der vielbegehrten Karten zu gelangen. Noch am Tag des Konzerts sah man eine Reihe schlafender Studenten vor der Carnegie Hall: Sie hatten die ganze Nacht auf das Privileg gewartet, einige jener hundert Stehplätze zu erwerben, die drei Stunden vor dem Konzert verkauft werden sollten.

Die bedeutendsten Repräsentanten aus Musik, Theater und Tanz, Politik und Wirtschaft waren im Publikum vertreten, unzählige junge Leute saßen im Saal, die den Meister entweder noch nie live erlebt hatten oder seit seinem letzten Auftritt erwachsen geworden waren. Keine Zuspätkommenden störten, und als Horowitz erschien, wurde er mit standing ovations stürmisch empfangen. Schon bevor seine Musik erklang, wußten die Zuhörer, dass sie an einem historischen Augenblick teilnahmen: Sie selbst hatten mehr als zwölf Stunden für Karten angestanden, Horowitz hingegen mehr als zwölf Jahre seines Lebens, eine Zeit, in der seine Lebensführung auf diesen einen künstlerischen Moment abgerichtet erschien.

Mehrere Phasen der Zurückgezogenheit prägten seine Karriere, Zeiten, in denen seine Kunst neue Polarisierungen innerer Zerrissenheit, geistiger Ekstase und neuer Einsichten erfuhr. Sein letztes großes Comeback feierte Horowitz im Jahre 1986 bei Konzerten in Moskau, Berlin, Hamburg und Frankfurt: Trotz der vielfach erbitterten Nachfrage um die Eintrittskarten, die teilweise zu Höchspreisen auf dem Schwarzmarkt versteigert wurden, und trotz des wiederum gesellschaftlichen Events - ein Jahr zuvor war Horowitz in einem einzigartigen Konzert in London aufgetreten, welches sogar von der königlichen Hohheit goutiert wurde - wurden die Auftritte dieses Mal beinahe zu "Lehrstunden" für Pianisten: Viele der internationalen Pianistenelite waren angereist, um in Andacht der einzigartigen Nuancierungskunst des Meisters zu lauschen, um neue, innere Zusammenhänge und Spannungsmomente der Musik zu erfahren.

Zu künstlerisch und gesellschaftlich ähnlichen Attraktionen gerieten auch die Auftritte der legendären Maria Callas. Neben ihrer einzigartigen stimmlichen Qualitäten waren es vielmehr ihre luxuriös-persönliche Aura und letztlich ihre eigene Lebensführung zwischen Liebe und Haß, Depressivität und Höchststimmung, die das Publikum in Spannung hielt.

Ungeachtet unterschiedlicher Metiers, ob es jetzt um den "Starkult" eines Pianisten, einer Opern-Primadonna oder um Pultstars wie Karajan oder Bernstein geht, hielten sich der künstlerische Anspruch und das Niveau des Auditoriums irgendwie die Waagschale. Freilich, jede Zeit kennt ihre "Stars", oder macht sie dazu. Bedenklich (und ärgerlich) ist es jedoch dann, wenn das Publikum in geradezu peinlicher Art und Weise seine Unwissenheit demonstriert und an völlig unangebrachten bisweilen falschen Stellen im Konzert applaudiert. Jüngstes Beispiel sind die Auftritte der Anna Netrebko. Erfreulich, dass das Publikum "seinen" neuen Star gefunden hat, den es in die Nachfolge der Callas erhebt, erfreulich, dass Agenturen und Veranstalter einen neuen Garant für volle Kassen im Repertoire haben; bedenklich bleibt hier jedoch in der objektiven Beobachtung die Veränderung und damit das Konsumverhalten des Publikums im Konzertbetrieb.

Gefordert sei hier eine notwendige Rückbesinnung zu den Wurzeln des Lebens und der Musik: Reflektiert Musik den fließenden Charakter des Phänomens Leben? Gibt das Tempo von Musik die Kürze des Lebens wieder? Bewegt sich die Musik während der Pausen, oder kommt sie zum Stillstand? Fühlen wir die Vergänglichkeit des Lebens, wenn der Klang, den wir hören, erstirbt? Wie verhält sich das Phänomen von Katharsis in der Sphäre von Musik? Was bedeutet "Die Musik der Sphären"? Strahlen leblose Dinge unhörbare Musik aus, und wenn ja, kann unhörbare Musik unsere Herzen bewegen? Erzeugt Musik überhaupt irgendetwas und besetzt sie dabei irgendeine Nische im Gefüge der Erschaffung der Welt?

Die Antwort auf jene Fragen bleibt jedem offen. Möge sie als Reflexion heranführen an den Kern unseres Inneren und an den der Kunst ...

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2005


Oden an die Freiheit - December 5, 2005
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image Es war interessant und bewegend zugleich, das sich immer mehr verdichtende Netz in der Top-Liste der Jahrhundert-Hits in der neuerlichen TV-Show der Serie „Unsere Besten“ mitzuerleben und somit die Präferenzen des wählenden Publikums um die Gunst ihrer Favoriten zu erfahren.

Interessant insofern, dass gerade die Liste der Top-Ten allesamt ein gemeinsames Ideal verfolgten, unabhängig ob Klassik oder Pop und unabhängig ihrer jeweiligen musikalischen Stilistik bzw. ihres Genres, nämlich den Aspekt von «Freiheit». Da drängt sich geradezu die Frage auf, was bewegt Menschen letzten Endes, was treibt sie, trotz aller Stimmungsmiseren, privat, politisch oder beruflich, an, welche Energie ist es, die deren Batterien immer wieder auflädt und neue Hoffnungen schöpfen läßt? Letztlich ist es der alte, unaustilgbare Lebens- und Freiheitstraum von Glück und Freiheit, der über alle Grenzen hinweg in Menschen Gefühlsregungen hervorruft, Bekenntnisse, kulminierend in Liebe, zu Tage fördert. Faszinierend dabei, dass dieser alte Lebenstraum auch nicht von Modernisierungen, Medien, Technik etc. gebremst werden kann.

Von allen Künsten ist es gerade die Musik, die in ihrer Vielschichtigkeit der Formulierung und Deutbarkeit die Grenzen der Äußerungs- und Darstellungsfähigkeit leicht überwindet. Während sich die Bildenden Künste letztlich nur auf ihre visuelle Eindringlichkeit und Stimmung oder die Darstellende Kunst auf die Raffinessen umgesetzter, szenarischer Programmatik verlassen können, verfügt die Musik über allumfassende Möglichkeiten, den Menschen in seinem Inneren zu erreichen. Dabei sind es immer wieder die Inhalte alter, klassischer Thematiken, die auch heute noch Gültigkeit besitzen: Blickt das «Chanson» auf eine bis ins 12./13. Jahrhundert zurückliegendeTradition und Entwicklung zurück, so sind es jedoch stets die Einheit von Text, Musik und Vortrag gewesen, welche Lyrik, Humor und Satire als Appell an den Zuhörer verstehen. Reinhard Mey mit „Über den Wolken“ kletterte nicht umsonst in der Rangliste der Besten auf Platz 4, erzählt sein „Alt-Klassiker“ aus den 70er Jahren vom Paradies und der Illusion der zwar verlorenen, aber denoch angestrebten, Freiheit, welche damals wie heute ein Lebensideal in der Überwindung der Materie als Ziel einer neuen Daseinsform, losgelöst von irdischen Ängsten und Sorgen, ansieht, zudem verknüpft mit beißend-würziger Gesellschaftskritik, die sich gegen die damaligen Pläne «Startbahn West» richtete, welche dem angestrebten Freiheitsideal in seiner realisierten Lebensform als unvereinbare Einschränkung entgegenstanden. Den Kern der Aussage unterstrich die Schlichtheit der Darbietung in ihrer klassischen Form, Gitarre und Gesang.

Von diesem Lebensideal träumte einst auch Robert Schumann, denke man nur an die Dimension des hochromantischen Liedes «Mondnacht» aus seinem «Liederkreis», in dem Schumann träumerisch Himmel und Erde miteinander vereint und schließlich die Seele Freiheit, Ruhe, Frieden und Heimat in der davonfliegenden Schwerelosigkeit und Stille, quasi einer kosmischen Welt, finden läßt.

Über Epochen, über Stilistiken und die Grenzen von U- und E-Musik hinweg, wird verständlich, dass ein solcher Freiheitsgedanke allbeherrschend ist, egal, ob es Peter Maffay mit „Sieben Brücken“ aus den 80ern oder die Scorpions mit ihrem Number One-Hit „Wind of Change“ aus den 90ern sind: Die Überwindung von Ost-West Problemen bishin zum Mauerfall standen stets als zentrales Thema bzgl. der Überwindung von Grenzen im Mittelpunkt menschlicher Daseinsform.

Last not least, ein wirkliches, klassisches Meisterwerk in der beispiellosen Verbindung menschlicher und künstlerischer Entwicklung, ist der letzte Satz der neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven, der Chorsatz, in welchem Beethoven sich mit einer Botschaft an den Menschen wendet und eindrucksvoll Schillers »Ode an die Freude« verarbeitet: Eine trotz aller Leiden, Entbehrungen und Verluste lebensbejahendere Form des Ausdrucks hat es in dieser Form noch nicht gegeben. „Freunde, nicht diese Töne ...!“ – exemplarisch blieb dieser Appell, nicht nur in der einzigartigen, kompositorischen Verschmelzung von Literatur und Musik, sondern unüberschätzbar in seinem humanitären Ziel in der Zusammenführung von Menschen und Nationen, ein in unserer heutigen Zeit mit neuer Aktualität nicht mehr wegzudenkendes Postulat für politisches und ethisches Bewußtsein. Ein Freiheitsgedanke, hervorgebracht in den Idealen der Aufklärung, ausgedeutet gegen Ende der Klassik, modern und stets aktuell zu allen Zeiten ...

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2005


Mythos Mozart und Kollege - May 19, 2006
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image Mozart und das Mozart-Jahr. Die Boulevard-Presse befleißigte sich ausgiebigst und leitete das Mozart-Gedenkjahr entsprechend ein, und auch zahlreiche Fernsehanstalten, öffentliche und private, huldigten einem der sicherlich größten Komponisten und Genies, das diese Welt hervorgebracht hatte und versuchten, Mozart zu „erklären“, neu zu aktualisieren, um einerseits ihn und seine Musik in ein Zentrum der Komponisten schlechthin zu rücken, andererseits aber auch, um der in die Krise geratenen Klassik neue Impulse zu schaffen, um somit einen Zugang für jugendliches Publikum zu ermöglichen. Ein „Mozart-Bild“ wurde regelrecht geschaffen.

Die Focussierung und Konzentration auf die Person Mozart alleine versperrt aber den objektiven und rechten Blickwinkel für das damalige Musikleben und die bürgerlich-gesellschaftlichen Konventionen und deren Gefühlswelt im Allgemeinen. Musikliebhaber werden mit Mozart vor allem den «Komponisten der Zauberflöte» verbinden, doch nur wirklich begreifen kann man Mozart nur, wenn man über die vielen anderen Komponisten und deren Bedeutung dieser Epoche weiß.

Dabei besaß Mozart unter seinen Zeitgenossen nie jene herausragende geschweige dominierende Rolle, die man ihm heute andichtet. Mozarts visionär-zukunftsweisende Musik konnte in der Zeit ihrer Entstehung nicht verstanden werden: Den klassischen Formprinzipien zwar verpflichtet, balanciert seine Musik, einem Hochseilakt gleichend, in einer überhitzten Spannung zwischen Liebe und Tod, Dramatik und selbstironisierendem Humor, überlagert von dem «stile-galante», der als reizsam-dekorative Oberfläche die hochexplosiven Inhalte in einer einzigartigen Schwerelosigkeit scheinbar überdeckt. Die Hervorbringung dieser Inhalte ist es auch, was die Interpretation der Werke - heute wie damals – so unüberwindbar erscheinen läßt. Die Spannungsfelder zwischen kindlicher Naivität als vordergründiges Mittel und dramatischer Emotionalität als expressiver Seelenzustand sind Zeugen der inneren Zerrissenheit des Menschen Mozart, dessen Charaktere dem Wesensbild der aufkommenden Zeit des Biedermeiertums entschieden widersprach und somit auf keine breite Akzeptanz hoffen konnte, weder künstlerisch noch gesellschaftlich. Der Wiener Adel hatte sich nach den Aufführungen von Le nozze di Figaro mehr und mehr von ihm distanziert. Lediglich in Prag konnte er mit seinen Werken noch Erfolge feiern. Mozart war sich bewußt, im Umfeld des Kaiserhofs kaum mehr Anerkennung als Kapellmeister finden zu können. Sein Zweifel an einer erfolgreichen Zukunft als Opernkomponist waren es auch, auf eine Bewerbung um das Amt des zweiten Kapellmeisters am Wiener Stephansdom zu verzichten.

Denn nie zuvor war das kulturelle Leben des bürgerlichen Europas vielfältiger als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Unzählige Hof- und Opernkapellmeister, zu ihrer Zeit bekannter und erfolgreicher als das Salzburger Wunderkind, hinterließen ein immenses kompositorisches Erbe auf künstlerisch-kompositorisch höchstem Niveau, welches heute unverdientermaßen in Vergessenheit geraten ist und den Vergleich mit Mozart nicht zu scheuen braucht, heute jedoch allenfalls in Spezialistenkreisen bekannt ist. Direkt in ihrer musikalischen Aussage und Diktion entsprachen sie mehr der Ästhetik ihrer Epoche und waren somit den Zielsetzungen der Menschen näher als die Komplexität Mozarts.

Beispielsweise Johann Adolf Hasse, der Altvater der opera seria, Giovanni Battista Martini, der auch Mozarts Kompositionslehrer war, Niccolò Jommelli, der mit etwa 60 Opern einer der bedeutsamsten und produktivsten Komponisten seiner Zeit war, der Franzose François-André Philidor, der als Komponist wie auch Schachspieler gleichermaßen hohe Bedeutung errang, der Italiener Tommaso Traetta, der im Dienste der Zarin in St. Petersburg stand, der Spanier Vicente Martín y Soler, der in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Lorenzo da Ponte die beliebtesten Opernwerke des 18. Jahrhunderts schuf, der aus dem fränkischen Amorbach stammende Joseph Martin Kraus, den man aufgrund seiner Wahlheimat als den «schwedischen Mozart» bezeichnete, der Böhme Adalbert Gyrowetz, der gemeinsam mit Goethe die Altertümer Roms besichtigte, Joseph Eybler, der für Mozart die Sängereinstudierung von Cosí fan tutte übernahm und später Salieri als Hofkapellmeister am Kaiserhof beerbte und allen voran der jüngste Bach-Sohn Johann Christian Bach, den Mozart hoch verehrte. Die eingehende Beschäftigung mit diesen Komponisten dürfte Hochinteressantes zu Tage fördern und den Blickwinkel auf die Lebens- und Schaffensumstände im Allgemeinen, aber auch auf Mozart selbst, bedeutsam erweitern, die Wiederaufnahme diverser Werke eine Bereicherung des Opern- und Konzertrepertoires darstellen.

Vergessen sind die Namen und Werke dieser Komponisten aber auch durch das von Constanze Mozart geschaffene und idealisierte «Mozart-Bild»: Hätte sie den Mythos Mozart nicht weiter vorangetrieben, indem sie das Vermächtnis ihres Mannes manipulierte, Briefstellen schwärzte und Lücken in der Chronologie des Briefverkehrs einbaute, so frage man sich heute, welche Komponistennamen heute aus der Fülle der einstigen Hofkapellmeister, Opern- bzw. Kirchenkomponisten verbleiben würden und ob uns die Werke weiterer Mozart-Zeitgenossen wie Cannabich, Mysliveček oder Paisiello genause bekannt wären wie die eines Schuberts, Schumanns oder Mendelssohns in der Romantik?

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2006


Robert Schumann: Musik der Romantik - zwischen Poesie, Ekstase und Intellekt

Robert Schumann zum 150. Todestag
- July 29, 2006
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image Die Musikwelt hält inne und gedenkt ein weiteres Mal in diesem Jahr einem der ganz großen Komponisten: Robert Schumann, dessen Todestag sich am 29. Juli zum 150. Male jährt. Zwischen den Künsten stehend, verband er die hohen Ideale der Romantik wie kein anderer seiner Zeit. Gleich Eichendorff lebte er in der ihn umgebenden Natur wie in einem idealen Reich der Phantasie, einem „Traumland Atlantis“, von dem der Dichter E. T. A. Hoffmann spricht, das mit Farben und Klängen wie ein bunter Teppich durchwirkt war. Doch dieser beinahe schon magische Bereich war lediglich eine Oberfläche, eine stimmungsvolle Komponente, die sein hochexplossives Œuvre umgab. Inspiriert durch die Polyphonie Bachs knüft sein kompositorisches Schaffen an eine Übergangsperiode an, welche durch die Nachfahren und Epigonen der Wiener Klassiker, insbesondere Beethoven, bestimmt ist. Seine kompositorische Fantasie führte ihn jedoch über die vor ihm bekannten harmonischen Verbindungen hinaus, wobei er in Fuge und Kanon älterer Meister ein romantisches Prinzip entdeckte: Das Wesen des Kontrapunkts entsprach in der Verflechtung der Stimmen den geheimnisvollen Verwandtschaften zwischen den Seelen und Dingen, in deren musikalisch-rhetorischer Umsetzung und Darstellung Schumann eine neue Ausdrucks- und Stilform sah. Die Tatsache, dass Schumann in seinen ersten Schaffensjahren ausschließlich fürs Klavier komponierte, liegt darin begründet, dass für ihn die bekenntnishafte Darstellung der eigenen Künstlerpersönlichkeit, der Empfindungswelt des Einzelnen, (zunächst) im Vordergrund stand. Die romantische Auffassung, dass das Reich der Töne dort beginne, wo die Artikulationsmöglichkeiten der Sprache enden, ließ sich nirgends so gut verwirklichen wie im Klavierspiel. Klavierspielen heißt, sein inneres Fühlen durch Musik auszusprechen. „Es habe sich der alte Mut wieder eingestellt, vor Leuten zu phantasieren, (also sein Innerstes der Öffentlichkeit preiszugeben)“, schreibt Schumann 1834 an seine Mutter. Seine Klavierwerke sind Kronjuwelen eines jeden pianistischen Repertoires und gleichzeitig Jahrhundertwerke in der Geschichte der Komposition schlechthin, entstanden in einer hochexplosiven Zeit, einer Zeit, in der Mendelssohn, Chopin, Liszt, später noch Brahms, gelebt, komponiert, geschafft und konzertiert haben. Seine Werke balancieren auf einzigartige Weise zwischen den Extremen, Obsession, Euphorie, Zerrissenheit und Poesie, versteckt und personifiziert in den von ihm geschaffenen, fiktiven Gestalten Florestan und Eusebius, inspiriert von dem kosmischen Gesang der Dichter seiner Zeit, in deren Worten das Ungreifbare dieser Erdenträume an die Schwelle des ahnenden Bewußtseins gerufen wird. Schumanns musikalische Fantasie spricht mit der Magie der Töne aus, was in den Metaphern von Schlegel, Novalis, Eichendorff oder Jean Paul umschrieben ist. Höhepunkte dieser literarischen Verquickung sind die Fantasie C-Dur op. 17, jenes kühnste und freieste Werk, was zudem keinem anderen als dem Starpianisten der damaligen Zeit, Franz Liszt, gewidmet ist. Oder etwa die Kreisleriana op. 16, jenes Chopin gewidmete „Seelenportrait“, ein Zyklus, in welchem das Nächtliche, Hintergründige und Chaotische in unvergleichlich künstlerischer Vollendung Ausdruck gefunden hat. Literarischer Hintergrund der Kreisleriana, die Schumann 1838 innerhalb von vier Tagen in fieberhafter Unruhe und depressiver Stimmung schrieb, sind E. T. A. Hoffmanns “Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler“, eine jener romantisch-exaltierten Phantasmagorien, die gleich gestimmte Saiten in Schumanns von seiner eigenen schöpferischen Fantasie aufgewühlten Seele zum Klingen brachten. Dass Hoffmanns Held im Wahnsinn endet, Schumanns eigenes Schicksal gespenstisch vorwegnehmend, signalisiert jene für die Romantik so bezeichnende Verquickung von Biographischem, Literarischem und Musikalischem, wie man ihr in Schumanns Œuvre immer wieder begegnet. Chopin, im selben Jahr wie Schumann geboren (1810) und ausschließlich den klassischen Formprinzipien verpflichtet, schätzte dieses Werk hingegen weniger: Schumanns Fantasien erschienen ihm zu zerrissen, exzentrisch und verworren.

Über seine bedeutenden solistischen Klavierwerke sowie das Klavierkonzert hinaus stellen seine kammermusikalischen Kompositionen, seine Lieder und insbesondere seine 4 Symphonien nicht wegzudenkende Marksteine in der Welt der Musik dar. Mehr noch: Sein Beitrag zur Musikgeschichte und –wissenschaft ist beipiellos: Autor hochintelligenter und tiefschürfender Essays, Gründer der „Neuen Zeitschrift für Musik“, Kritiker, Feuilletonist und insbesondere Wegbereiter von Johannes Brahms.

Mit der berühmtesten Pianistin, Wegbereiterin und Vordenkerin ihrer Zeit, Clara Wieck, verheiratet, stand er stets im Zentrum musikalisch-gesellschaftlichen Interesses.

Die Zeit des Biedermeiers erlaubte und verstand jedoch seine Phantasmagorien (noch) nicht und sah ihn als verrückt an. Zu extrem waren seine Empfindungswelten zwischen schlichtlauterer und intim-verinnerlichter Lyrik, Extase und Intellekt. War er letzten Endes vielleicht gar nicht krank sondern nur ein verkanntes Genie, welches von «seiner» Zeit nicht akzeptiert wurde?

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2006


Musikerziehung gefährdet

Musikalität, Bildung und Nachwuchsförderung
- June 23, 2007
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image Otty Schily äußerte einmal, dass Musikalität die Kriminalitätsrate senke. Dies bezog er freilich auf die von ihm stets geforderte Nachwuchsförderung im Rahmen kulturpolitischer Themen und Diskussionen und forderte insbesondere die Kultusministerien zu intensiveren Ausbildungsprogrammen an Schulen auf. In seinen Äußerungen ging Schily u.a. so weit, dass er sagte, "wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit".

Die „innere Sicherheit“ bezog er dabei auf die Stabilität des Einzelnen und seiner Persönlichkeit, und sah dabei die Individualität, deren Ausbildung und Förderung als Bestandteil eines großen Ganzen, unserer Gesellschaft, worin letztlich er auch die „Sicherheit eines Landes“ verankert und verwirklicht sah.

Schily wußte zudem sehr wohl, was musische Beschäftigung und Ausbildung bedeutet, schließlich ist er – wenn auch nur in seiner Freizeit - passionierter Klavierspieler und wurde 2002 auf der Frankfurter Musikmesse zum "Klavierspieler des Jahres" nominiert.


Überhaupt war „Kulturpolitik“ in der Regierung unter Gerhard Schröder ein willkommenes Thema, sicherte der sich doch den Rat eines offiziell inthronisierten Kulturministers.

Vor politischen Alltagsthemen der heutigen Regierung scheinen solche Diskussionen geradezu zu verblassen bisweilen in den Hintergrund gedrängt, allzusehr dominieren die krampfhafte Profilierungssuche aller Agierenden, die letztlich ihre Rolle und Funktion in einem Schauspiel der Selbstdarstellung suchen. G-8 Gipfel und seine leeren Versprechungen, letztlich nur eine Frage der Machtpositionierung? Schnell werden Kritiker laut und rufen zur „Basis“ zurück!

In Zeiten schwindender Kassen scheinen musische Ausbildung an Schulen und Nachwuchsförderung zu politischen Stiefkindern geworden zu sein. Da sieht man sich sehr schnell mit der Situation konfrontiert, dass beispielsweise Musikhochschulen nicht in der Lage sind, neue Instrumente bzw. einen längst überfällig-notwendig gewordenen Konzertflügel anzuschaffen, um somit eine Ausbildung auf hohem Niveau ermöglichen zu können, oder dass offizielle Sparmaßnahmen dazu zwingen, hochdotierte Stellen einfach zu streichen. Gleiches trifft aber auch Gymnasien, Real-, Grund- und Musikschulen sowie Bildungseinrichtungen im Allgemeinen, deren Überlebenskampf den obliegenden «Bildungsauftrag» oft überschattet.

Längst ist Kultursponsoring zum rettenden Zentral-Thema geworden. Prinzip hierbei ist, auszukommen ohne Subventionen und kostendeckend aus der eigenen Gesellschaft zu sein. Jüngstes Beispiel vorort ist das Rheingau-Musikfestival. Fungierend als Stiftung ist es ein „Unikat zur Selbstfinanzierung“ und ein Muster für künstlerisches und erfolgreiches betriebswirtschaftliches Engagement.

Dass in Schulen Grundlagen für ästhetische Bildung gelegt werden, sollte jedoch Diskussionspunkt bleiben, zumal - auch unter pädagogischem Blickwinkel - die Tonkunst als «Instrument» generell angesehen wird. Da kommt schnell die Schlußfolgerung auf, dass Musik aggressionshemmend, zugleich jedoch lernfördernd sei.

Doch wie praktikabel ist diese (idealisierte) Vorstellung mit der neuerlichen Einführung des G-8-Modells an Gymnasien? Thomas Goppel kritisierte zu Recht und warnte, dass mit dieser Form der verkürzten und konzentrierten Lehrform gerade die Ausbildung von musischen Fähigkeiten und sportiven Neigungen auf der Strecke bleibe, da insbesondere diese Beschäftigungen die Freizeit der Schüler in besonderem Maße in Anspruch nehmen, welche mit der G-8 nicht mehr gewährleistet sei.

Der politisch-finanziell bedingte Ruf nach Reformen bringt vieles durcheinander, rüttelt an den Wurzeln bewährter erzieherischer und pädagogischer Erkenntnisse.

Musik und Kunst sind notwendig, um unser Wissen daran zu bilden. Musik, Kunst und deren Interpretation sind allumfassend und setzen für Verständnis und Weitervermittlung auf entsprechendem Niveau die exakte Kenntnis und Einbeziehung von Philosophie, Literatur, Soziologie, Kunstgeschichte und Naturwissenschaften der jeweiligen Zeit voraus. Die Ethoslehre der Griechen wußte um die Bedeutung der Ausbildung der „musiké“ und sah deren Wichtigkeit in der Heranbildung ihrer Jugend.

Andere Länder haben uns, trotz großer wirtschaftlicher Probleme, einiges voraus: «La Systema», eine Initiative aus Venezuela, holt Straßenkinder ins Orchester und fördert sie auf Basis der Ausbildung ihrer musikalischen Fähigkeiten. Ein Modell, welches Beschäftigungstherapie, Nachwuchsförderung und soziales Engagement miteinander verbindet, das Schule machen sollte. Ob Venezuela Otto Schily und dessen Forderung offenbar besser verstanden hat als sein eigenes Land?

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2007


Interpretationskultur

Netrebko besser als Callas?
- May 24, 2008
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image Für Opernfans muss es eine Überraschung gewesen sein, denn vorerst werden sie auf ihr Idol Anna Netrebko verzichten müssen. Die Sängerin erwartet im Herbst ihr erstes Kind und tritt nun kürzer. Doch wird man sie tatsächlich vermissen?

Sicherlich Gelegenheit und Anlass, darüber nachzudenken, ob Maria Callas nicht doch „besser“ war als Anna Netrebko. Zweifelsohne, die timbrelose Stimme der Netrebko dürfte weit entfernt sein von der alle Affekte umspannenden Aura einer Maria Callas, doch liegt der Unterschied „nur“ in dieser auditiven „Äußerlichkeit“? Ist es nicht vielmehr eine Frage des Stellenwerts der Interpretation selbst als Spiegel im Wandel einer sich stets (ver-)ändernden Kulturlandschaft? Wie und warum veränderte sich im Allgemeinen die Interpretation, aber auch die Interpretationshaltung im Laufe der Zeit? Ist Interpretation ausschließlich die Antwort auf den Zeitgeist einer jeweiligen Epoche?

Beispielsweise: Warum existieren verschiedene „Bach-Bilder“ und damit unterschiedlichste Interpretationen? War der Pianist Glenn Gould wirklich der Radikalist, oder sah er sich nur an der Schwelle einer mehr als nur notwendigen Wende, um eine „Bach-Vorstellung“ in eine jeweilig demonstrativ-absichtsvolle, radikale Richtung zu lenken, quasi als krasser Widerspruch zu einem „Bild“, das Albert Schweitzer mit einer fälschlich-romantisch-verfehlten Interpretation schuf, aber doch seine unabdingbaren Verdienste in der Wiederentdeckung von Bach hatte? Oder als radikale Antwort auf die (unsinnigen?) orchestralen Transkriptionen eines Leopold Stokowski, die sicherlich ihre Rechtfertigung in der Popularisierung vieler Bach-Kompositionen hatten, aber eben doch in die falsche Richtung der Darstellung tendierten.

Interpretationen beinahe schon als „Politikum“, als wechselseitige Energiefelder also? Glenn Gould im Spannungsfeld einer Verantwortung, der er sich verpflichtet sah, aber auch verpflichtend gegenüberstand und die gesamte Musikwelt in ihrem Verhältnis zu Bach polarisierte, inspirierte, ja letztlich dazu zwang, Musik und Kunst neu zu überdenken und erfahrbar zu machen. Oder die geistige Durchleuchtung der inneren Struktur insbesondere klassischer Werke eines Rudolf Serkin, dessen Interpretationen durch die explosiv-energiegeladene Ausdeutung minuziöser Details bis hin zur architektonischen Großform zu einem unerbittlich entrollenden, dynamischen Prozess wurden, und dies bei gleichzeitigem Ineins von vehementer Attacke und glühendem Espressivo. Interpretation also, die in der genauen Kenntnis eines filigranen Netzes entstand und geboren, schließlich in regelrecht zerreißenden Prozessen hervorgewuchtet wurde, stets neu überdacht und hinterfragt, als humaner Teil und Produkt einer einzelnen Person, aber doch stets im Blickwinkel eines großen Ganzen, eines allumfassenden Weltbildes stehend, in der Verpflichtung, die Absicht und Intention des dahinterstehenden Komponisten einerseits stets zu wahren, aber doch in der Illusion und (Vor-)Ahnung, im Sinne eines romantischen Realismus prägend zu revoltieren. Das „Anders-Sein“ also nicht als subjektive Gegebenheit einer Persönlichkeit, sondern als demonstrativ-absichtsvolle, klar kalkuliert-geplante Zielsetzung einer philosophischen Denk- und Geisteshaltung.

Zwangsläufig spielte Rubinstein Chopin anders als Cortot. Eben „klassizistisch“. War es „nur“ der Charakter von Rubinstein, oder vielmehr die Antwort und notwendige Konsequenz, der sich Rubinstein gegenübersah, Cortots romantisch-visionär-entmaterialisiertem Chopin in strenger Haltung entgegenzutreten, um die klassische Struktur in Chopins Œuvre, die nun mal einkomponiert ist, neu zu beleben und zu erhellen, um somit einerseits die Einzigartigkeit in der Bedeutung Chopins selbst hinsichtlich seines kontrolliert-klassischen Formbewusstseins im Gegensatz zu einem romantischen Überschwang zu betonen, andererseits eine Balance zwischen Klassik und Romantik zu schaffen? Gleichzeitig ermöglichte er mit dieser beinahe schon objektivierten Interpretationshaltung eine neue Ebene für nachfolgende Generationen. Würde Rubinstein „seinen“ Chopin auch heute noch so spielen, wenn er nochmals geboren würde und heutigen Zeit-Bildern gegenüberstehen würde?

Warum wandelt sich auch heute noch die Interpretations-haltung, und ist diese vielmehr im Sinne dieser dargestellten Verantwortung überhaupt noch vorhanden?

Als Spiegel einer „Zeit-Kultur“ und deren Ansichten oder auch als Folge auf die mehr als nur fragwürdigen PR-Maschinerien der (wenig verbliebenen) großen Plattenlabels? Wo und woraus entstehen diese „Interpretationen“, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Gesamtkontext eines großen Ganzen stehen?

Jüngstes Beispiel ist der chinesische Pianist Lang-Lang, dessen Spiel lediglich einer clowneriehaften Maskerade gleichkommt und keinerlei Chancen auf historische Betrachtung, Überdauerung und somit Wert hat. „Kurz-Kurz“ dürfte die Antwort lauten...

Bliebe die Schlussfrage, welches Publikum sich davon anziehen lässt und das noch gut findet? Fachleute haben sich bereits längst davon verabschiedet...

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2008


Gibt es noch Hausmusik? - January 2, 2009
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image Die ruhigen und besinnlichen Festtage sind vorbei. Einige Anmerkungen zu ihnen sollten dennoch gestattet sein.

Während früher gerade in dieser Zeit die Familien durch die Musik zusammenrückten, ist diesbezüglich eine große Entfremdung eingetreten.

«Hausmusik», die einst gepflegt wurde, gibt es kaum noch. Bedauerlich, denn «Haus-Musik» war nicht nur einst aus der Erkenntnis geboren, dass häusliches Musizieren der Nährboden für musikalische Talente, sondern auch für die Bildung eines am öffentlichen Konzertlebens interessierten Publikums ist.

Statt an den Festtagen Hausmusik zu praktizieren oder ihr zu lauschen, stürzt die Jugend lieber in die Disco, um dort bestenfalls «House-Music» zu hören.

Hausmusik, anfangs Kennzeichen adeliger Familien, entwickelte sich seit dem späten 18. Jahrhundert parallel mit dem Erstarken des Bürgertums zu einer bürgerlichen Gattung, die in der Salonkultur des Biedermeier ihren Höhepunkt erreichte.

Die wirtschaftliche Krise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Verfügbarkeit von Musik auf Tonträgern reduzierten die Hausmusik stark, brachten sie glücklicherweise aber nicht vollständig zum Verschwinden.

Obwohl das gesellige Musizieren in der Familie auch in der Volksmusik bekannt ist, ist der Begriff «Hausmusik» als bürgerliches Phänomen definiert. Privater Unterricht, öffentliche Musikschulen, aber auch eine entsprechende Produktion an leicht spielbarer, gering besetzter Musik («Diletto musicale» und andere) sind die notwendigen Voraussetzungen einer Hausmusikkultur.

Blütezeit der Hausmusik erlebte Wien zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wo es eine neue Welle des Mäzenatentums war und bedeutsame Auswirkungen auf das musikalische Leben der Stadt hatte. Adelige Kunstförderer luden immer wieder Musiker und Kapellen in ihre Schlösser ein, die dort meist vor einem ausgewählten Publikum neue Kompositionen darboten. Auch wenn ursprünglich die Pflegestätte der Musik fast einzig auf den der Kaiserlichen Hof beschränkt war, so ging die Musikliebe allmählich auf den hohen und niederen Adel über.

Prominenteste Vertreter sind Haydn, Mozart und auch noch Beethoven, die unter ihren adligen Gönnern wirkten. Aus dieser engeren Verbindung der Künstler mit dem Adel entstand auch die Form der Kammermusik.

Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte die musikalische Ausbildung vor allem bei den Töchtern aus dem gehobenen europäischen Bürgertum zur guten Erziehung. Häufig waren hier Klavier- und Gesangstunden angesetzt. Auch erhoffte man sich die Chance auf erfolgreiche Verheiratung.

Entsprechend anspruchsvoller wurde das durchschnittliche Niveau der Schülerinnen, wenn auch weitere berufliche Ziele mit diesen Studien selten verbunden waren. Da waren musikalische Karrieren von Frauen auf dem Niveau einer Clara Wieck-Schumann im 18. und 19. Jahrhundert eher die Ausnahme. Fanny Hensel-Mendelssohn, nicht minder begabt, blieben dagegen bewusst im Schatten ihrer häuslichen und gesellschaftlichen Pflichten. Größere Selbstständigkeit hingegen genossen die Sängerinnen, deren spezifische Stimmlagen in der Besetzung von zeitgenössischen Opern verlangt wurden.

Die Pflege und somit der Erhalt der Hausmusik ist gerade unter pädagogischem Aspekt in unserer heutigen Zeit gefordert. Auch wenn die «klassischen Instrumente» wie Klavier, Gitarre, Akkordeon, Blockflöte, Hackbrett und Zither nicht mehr gerade «in» sind, so bieten heute insbesondere Keyboards ideale Möglichkeiten zur musikalischen Begleitung von Gesang.

Insgesamt sollte die Bedeutung von Musik – innerhalb und außerhalb der Familie – als kulturelles Gut nicht aus unserem Blickwinkel verschwinden.

Musik ist nicht nur an den Festtagen wichtig.


© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2009


Erlebnis des ästhetisch in sich Ruhenden, Schönen ...
Wie unterschiedlich sind die beiden Instrumente "Klavier und Orgel" wirklich?

Eine Kontemplation von Burkard Schliessmann
- VI / 2000
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image Franz Liszt an der Orgel? Diese Frage würden viele Musikliebhaber, ja Insider der Klavierszenerie mit einem entschiedenen Nein beantworten. Dabei lauten die Berichte über sein Orgelspiel ebenso sensationell wie über seine pianistischen Großtaten. Ein großer Teil seines kompositorischen Oeuvres ist der Orgel, der Königin der Instrumente, gewidmet. Man denke hierbei nur an das groß angelegte und hochvirtuose Präludium und Fuge über B-A-C-H oder die Phantasie über den Choral Ad nos, ad salutarem undam, Werke die nicht nur seinen eigenen Werkkatalog entsprechend illustrieren und in eigens nachbearbeiteten Fassungen auch als Transkriptionen für Klavier vorliegen, nein, vielmehr nicht mehr wegzudenkende Meilensteine der gesamten Orgelliteratur schlechthin sind.

Von Glenn Gould weiß man hingegen sehr wohl, dass er ebenfalls die Orgel meisterhaft beherrschte und in seinen letzten Lebensjahren Bachs Kunst der Fuge in zwei verschiedenen Einspielungen - sowohl in einer Orgel-Fassung als auch in der den Pianisten üblicherweise zugänglichen Klavierversion - repräsentierte und zugänglich machte.

Auch Wilhelm Kempff, der große Poet am Klavier, tauschte gelegentlich den Klavierstuhl mit der Orgelbank, wenn auch nur zu privaten, d.h. nichtkonzertanten Zwecken, entstammt er doch einer alten Musikerfamilie, wo Vater und Großvater bereits professionelle Organisten waren.

Und Arturo Benedetti Michelangeli? So wie er leidenschaftlicher Fahrer und Fan hochkarätigster sowie rasanter Automobile war und sich gelegentlich vom Sound von Ferrari und Matserati inspirieren ließ, fanden einige eng Vertraute ihn des Öfteren an Orgeln diverser Klöster Norditaliens sowie der Schweiz wieder. Ein Fluidum, dem er sich immer wieder hingab.

Und ich selbst gestehe, die Orgel sogar konzertant zu nutzen ...

Doch nehmen wir uns einen Moment Zeit und untersuchen die verschiedenen Aspekte, die selbst hochberühmte Pianisten, gestern wie heute, immer wieder veranlassen, gelegentlich die «Orgel» aufzusuchen, sich bestimmten Kompositionen der Orgelliteratur zu widmen, letzten Endes aber doch immer wieder zum «Klavier» zurückkehren.

Erlebnis des Klanges:

Dies dürfte wohl der primäre Aspekt sein, der wohl jedem Musikliebhaber unvergessen bleiben dürfte, wenn er einmal das Brausen, aber auch das sanfte Schmeicheln einer großen Orgel erlebt hat. Ein Gefühl, das einem - bei entsprechender Spielweise wohlgemerkt - regelrecht unter die Haut fährt. Wenn beispielsweise Bachs zu Recht berühmte «Toccata und Fuge d-moll», BWV 565, in festlich-barockem Glanz erstrahlt oder gar Liszts B-A-C-H - Thema seines Präludiums mit der entsprechend gewichtigen 32'-Registrierung im Pedal, zusätzlich aufgetürmt mit der alsgleich einsetzenden Manualakkordik, losdonnert, oder die großen Pedalnoten aus Widors berühmt gewordener «Toccata» aus seiner "5. Orgelsymphonie" das entsprechend majestätisch-gravitätisch-antiphonale "Gefühl" herstellen, dann durchzuckt es beim Erleben dieses kathedralesken Großklanges jeden auch noch so abgebrühten Hörer.

Doch bleiben wir bei Liszt selbst: In seiner Zeit entwickelte sich die "Kunst des Orgelbaus" zum symphonisch-orchestralen Ideal, entwickelte sich quasi weg vom strukturell klar gegliederten Aufbau der Barock-Orgel, wie Bach selbst sie kannte. Man verglich die Orgel mit einem großen Orchester, baute entsprechende Register, die in der Lage waren, die einzelnen Orchesterinstrumente gewissermaßen zu illusionieren. Unter Liszts Einfluss entstand auch die große, 81 Register umfassende Orgel des Merseburger Doms, deren Disposition er gemeinsam mit dem Orgelbauer Friedrich Ladegast entwarf. Für das Einweihungskonzert im Jahre 1885 schrieb er "Präludium und Fuge über B-A-C-H", da die Komposition aber dennoch nicht rechtzeitig fertig wurde (Liszt verfolgte den Bau der Orgel aus dem nahen Lauchstädt anlässlich seines Kuraufenthaltes mit ), spielte man seine Phantasie über "Ad nos, ad salutarem undam". Er selbst ließ sich - damals schon berühmt - auf der Orgelbank nieder und begleitete Arien von Bach und Mendelssohn. Der damals wichtige Musikkritiker Brendel betonte die "Kraft und Fülle" der neuen Orgel als "Erbe der Vergangenheit", stellte den "Wohllaut", ja "Schmelz" neben die "fast ungehörten, sanften Stimmen", dem eigentlichen Charakteristikum der «symphonischen Orgel». Bedeutende Orgelwerke wurden weiterhin für dieses Instrument geschrieben und auch uraufgeführt, so z. B. Julius Reubkes 94. Psalm oder Max Regers 2. Orgelsonate in d-moll.

Die Mersebuger Domorgel blieb bis heute ein Musterbeispiel hinsichtlich der Orgelbaukunst der sogenannten "Deutschen Romantik". In Frankreich entwickelte sich zeitgleich eine parallele Strömung, für die der in Paris ansässige und mit Liszt befreundete Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll verantwortlich zeichnete. Seine Orgeln, stets in Zusammenarbeit mit berühmten Pianisten und Organisten seiner Zeit entstanden, repräsentieren die Hochblüte des romantisch-symphonischen Orgelbaus, nicht nur in Frankreich, sondern als künstlerisch-revolutionär-visionäres Unterfangen schlechthin. So wohnte auch Liszt der Einweihung der Cavaillé-Coll Orgel in St. Clotilde zu Paris am 3. April 1966 bei, wo César Franck Eigenes und Improvisiertes zu Gehör brachte. Überwältigt vom Klangeindruck und Klangerlebnis verließ Liszt die Kirche und war so ergriffen, dass er zu seiner Umgebung sagte, seit Bach hätte niemand mehr so auf der Orgel improvisiert.

Überhaupt wurde durch die symphonische Orgel der dynamische Übergang zwischen den einzelnen Registern ermöglicht, ein Phänomen, das die Barock-Orgel nicht kannte, weswegen auch in der Klassik, das Instrument von den meisten Komponisten regelrecht gemieden wurde. Somit war das Instrument für viele wieder attraktiv, ja interessant geworden. Selbst Julius Reubke, einer der zahlreichen Liszt-Schüler, schuf neben seiner hochvirtuosen Klaviersonate b-moll mit seinem 94. Psalm, einer regelrechten "Programmsymphonie", ein kompositorisch schwerlich zu übertreffendes Meisterwerk.

Die Orgel als Instrument wurde und blieb eine Herausforderung für die Komponisten der Romantik, denke man nur - um in Frankreich zu bleiben - an die typisch-französische "Orgelschule", die mit César Franck begann und unter Charles Marie Widor, dem "Paganini der Orgel" (dazu mehr später), Louis Vierne und Marçel Dupré ihren Höhepunkt fand.

Ich selbst gestehe, dass der Klang der Orgel, insbesondere der der "symphonischen Orgel", mich immer wieder berauscht und immer wieder aufs Neue fesselt. Man sollte dabei bedenken, dass Orgel "hören" schon einen gewissen "Erlebniseffekt" hat, Orgel aber selbst zu spielen, d.h. die Klänge selbst zu erzeugen und das Gravitätisch-Majestätische der Klänge "am eigenen Körper" zu verspüren, ein Kompendium darstellt, das regelrecht süchtig macht.

Erlebnis von Spiritualität:

Kehren wir wieder zu Liszt zurück: Wir wissen, wie sehr er sich zeitlebens der Religion als Ausdruck und Verständnis eine transzendentalen Ebene, quasi einer Vision, hingezogen fühlte. Seine Klavierwerke leben allesamt von diesem Fluidum, denken wir nur an seine tief berührenden Tondichtungen "Harmonies poétiques et religieuses", woraus die "Bénédiction de Dieu dans la solitude" als Meditation, als Gebet höchster geistiger Extase als besonderes Tonstück herausragt und in seiner Stimmung den Einklang der Seele mit Gott evoziert, oder denken wir an Liszts bedeutendes Werk, die Sonate in h-moll, deren demütiger Gebetston der lyrischen Passagen unüberhörbar ist und deren visionärer, im ppp verhauchender Schluss die Erfüllung und Ruhe in Gott geradezu symbolisiert. Immer wieder suchte Liszt die Stille der Meditation, aus dieser Stimmung der Kontemplation heraus auch wesentliche Kompositionen der "Années de Pèlerinage" inspiriert sind.

Verständlich, dass er diesen Willen auch in seinen großen Kompositionen für Orgel zu manifestieren sah. Die Orgel als Ausdruck eines spiritualisierten, geistig-visionär-inspirierten Instruments.

Eine Aussage von Charles Marie Widor gegenüber Albert Schweitzer verdeutlicht dies: "Orgel spielen heißt, einen mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen offenbaren". Damit dürften Ansatzpunkt und Blickwinkel der Kompositionsweise des 19. Jahrhundert für dieses Instrument klar sein.

Besondere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit «Bach»:

Die bedeutendsten Werke, die für Orgel seit jeher überhaupt komponiert wurden, stammen von Joh. Seb. Bach. Zudem stand Bach dieses Instrument wie kein Zweites nahe, es entsprach in seiner Tongebung und Möglichkeit der Tonsprache seinem persönlichen Habitus wie kein anderes. So vertraute er diesem Instrument nicht nur seine zahlreichen großen "Freien Orgelwerke" an, sondern setzte sich hierbei mit der choralgebundenen Form des Komponierens auseinander, wie z. B. der «18 großen Leipziger Choräle», der «Orgelmesse» oder des «Orgelbüchleins». In keinem anderen, instrumentalen Werk von Bach, die großen Kantaten nicht außer Acht lassend, setzt Bach die ihm eigens innewohnende "Tonsprache" in Form ihrer eigenen "Symbolistik" so vollendet ein. Im «Orgelbüchlein», jenem wichtigen Instrumentalwerk der Weimarer Zeit und Standardwerk für jeden Organisten, fügt Bach 45 nach der Ordnung des Kirchenjahres gereihte Choräle zusammen, in welchen er seine eigene kompositorische Sprache in einer solchen kontrapunktischen Verdichtung und in so enger Wort-Ton-Beziehung entwickelt, dass die fast aphoristische Aussagekraft dieses "Wörterbuchs der Tonsprache Bachs", um die Worte Albert Schweitzers aufzugreifen, kaum überbietbar erscheint.

Noch kunstvoller sind die «18 Leipziger Choräle» gearbeitet. Man denke hierbei nur an die beiden Choralvorspiele "Schmücke Dich, o liebe Seele", oder die letzte Komposition Bachs überhaupt, das Choralvorspiel "Vor Deinen Thron tret ich hiermit", welches Bach auf dem Totenbett seinem Schwiegersohn Altnikol in die Feder diktierte.

Gerade in erstgenanntem muss der Spieler sich mit allenmöglichen Formen der melismatischen Verzierung und Trillerformen auseinander setzen, während das Choralvorspiel "Vor Deinen Thron tret ich hiermit" als ergreifender Schwanengesang fortschreitender kontrapunktischer Entwicklungen einen Zugang ganz eigener und persönlicher Art erfordert.

Und überhaupt: Auch wenn Bachs «Kunst der Fuge» primär nur als Komposition an sich gedacht war und von Bach selbst keinerlei Zuordnung zu irgendeinem Instrument fand, heute aber dafür umso mehr experimenteller Praktiken wie Bearbeitungen für Orchester, Streichquartett, Klavier u.a. regelrecht "unterwerfen" muss, so bleibt für mich die am überzeugendste Darstellung - sofern man den Versuch einer Instrumentierung unternimmt - auf einer großen Barockorgel, die mit ihrem unbegrenzten Lungenvolumen und der Vielzahl an Registern eine sonst schwerlich zu erreichende Farbigkeit und Unabhängigkeit in der Gegenüberstellung der jeweiligen Stimmführung ermöglicht.

Lernt man das Bachsche Oeuvre also auch einmal von dieser Seite her kennen, so offenbaren sich einem neue Möglichkeiten: Möglichkeiten in der Erkenntnis der kompositorischen Tonsprache von Bach als auch eine neue Sichtweise in der damit verbundenen Darstellbarkeit und Interpretation. Möglicherweise erhält man auch einen neuen Zugang zur sog. "Historischen Aufführungsspraxis".

Ein Pianist auf der Orgelbank?

Diese Frage lässt sich leicht beantworten: Ein Pianist verfügt grundsätzlich über weit mehr Technik, d.h. manuelle Fähigkeiten als jeder in Deutschland ausgebildete, auch namhafte Organist. Das ist nun einmal so. Mit dieser Vorbildung wird ein pianistisch geschulter Organist jedem seiner Kollegen, das rein handwerkliche Material betreffend, überlegen sein. Er wird Zugang zu Orgelmusik finden, die anderen ungebetenen Gästen, den Zugang verbietet. Ich denke hierbei nur an die bereits erwähnte "französische Orgelmusik". Charles Marie Widor beispielsweise schuf Orgelwerke, die ohne entsprechende Technik nicht zu bewerkstelligen sind. Er, der die technischen Neuerungen der Orgeln von "Cavaillé-Coll" entschieden zu nutzen und umzusetzen wusste und regelrecht für diese Instrumente komponierte (er selbst war Organist an der großen Orgel zu St. Sulpice zu Paris), setzte - auch wiederum unter dem Einfluss Bachs - bei seinen 10 Orgelsymphonien und weiteren Werken auf Manual und Pedal eine derart progressiv entwickelte Technik ein, die ihm den Ruf des "Paganinis der Orgel" einbrachten. Er, der an seinen Kompositionen unermüdlich feilte und feilte, bis sie seinen eigenen, höchsten Ansprüchen gerecht wurden, verfügte selbst über eine derart ebenmäßige Technik und Virtuosität, ohne die die sinnliche Schönheit seiner Musik erheblich gestört wäre. Man weiß auch, dass er von seinen Schülern dieses Ebenmaß an Technik stets zu fordern wusste. Ähnlich wie bei Liszt würden technische Defizite den inneren, eigentlichen Zugang seiner Musik verschließen, einen anderen, fälschlich-oberflächig-zwielichtigen, den eigentlichen Kern der Musik nicht erfassten, Eindruck hinterlassen, und nicht nur das, es würde sich auswirken wie das "Kratzen an einer griechischen Skulptur".

Die "französische Orgel-Schule" von heute hat ihre Konsequenzen daraus gezogen: Wer beispielsweise am traditionsreichen "Conservatoire Supérieur de la Musique" in Paris Orgel studieren möchte, muss bereits über eine glänzende pianistische Vorbildung verfügen. Verspürt ein Pianist also irgendwann die Affinität zum Instrument Orgel, so sei ihm dieser Weg wärmstens empfohlen. An großen Vorbildern und Vorbildnern wie Marçel Dupré, Jean Langlais, Jean Guillou, Phillippe Lefèbvre u.a. wird er sich messen und inspirieren lassen können.

Klangliche Vorstellung und künstlerische Experimente:

Die symphonische Orgel, wie Liszt sie erlebte, war zu einem gewaltigen Klangerzeuger geworden, der einerseits einem großen Orchester glich, andererseits ein riesiger "Chor" war, nur ohne Textunterlegung, welcher ihn immer wieder zu neuen Experimenten regelrecht herausforderte. So arbeitete er auch teilweise Werke, zu er früher anders konzipiert hatte, in Form von Transkriptionen auf die "symphonische Orgel" um, wie z. B. die "Symphonische Dichtung «Orpheus»".

Überhaupt stellt das Beherrschen eines solchen Instruments unglaubliche Anforderung an die Vorstellungskraft eines Spielers, es verlangt von ihm einen großen architektonischen Überblick über das jeweilige Werk und dessen Konzeption, es erfordert individuelle Flexibilität und Unabhängigkeit und sofortiges "Eins-Werden" mit neuen Situationen, denn: Jedes Instrument reagiert anders, jedes Instrument hat andere technische Möglichkeiten, andere Dispositionen, überall findet man veränderte akustische Verhältnisse und Gegebenheiten, die ein "Umdenken" alles Bisherigen erfordern.

Der "Nur"-Pianist zwar auch, könnte man entgegnen, doch im Fall des Instruments «Orgel» muss man sich von einer "festen" und "letztendlichen" Meinung über die Interpretation lösen. Es kann im Ernstfall eine Schule werden, in bestimmten Situationen quasi "ad hoc" Entscheidungen über einen ganzen, großen dramaturgischen Verlauf eines Werkes zu treffen.

Das teilweise notwendige "Experimentieren" mit den Registern fördert natürlich auch die Klangvorstellung eines Musikers im Allgemeinen. Auf jeden Fall kann dies die Vorstellungskraft stärken, wie es ihm weiterhin auch ermöglicht wird, gewisse "Klanggebäude" von Komponisten, beispielsweise bei Bach, neu zu verstehen. Gerade der Pianist sieht in seiner bisweilen selbst auferlegten Eingrenzung in diesem Fall Dinge zu einseitig, zu isoliert. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Pianist, dem auch die Orgelwerke Bachs nicht nur geläufig sind sondern er diese auch entsprechend umzusetzen weiß, Bach anders versteht und ihn interpretiert.

Zu Beginn meines Essays habe ich auch erwähnt zu klären, weshalb wir Pianisten dennoch immer wieder auf "unser" Instrument, den Konzertflügel, zurückgreifen und uns dafür entscheiden.

Ein zu überdenkender und einer genaueren Inspektion zu unterziehender Punkt ist primär für einen Pianisten

Der Anschlag:

Das, was einen Pianisten unter vielen Aspekten letztendlich ausmacht, ist sein Anschlag, der allumfassend über die Klangfarbe und die damit vermittelte Stimmung eines Werkes entscheidet. Auch ist der Anschlag Teil seiner Persönlichkeit, seiner Identität. Verfügt man hier über entsprechende Qualitäten, wird man daran bereits "gemessen". Es ist eine unglaubliche Summierung von vielen kleinen Details, die über die Qualität eines großen Pianisten entscheiden: Auftrittsvermögen, was für mein Verständnis nicht "lernbar" ist. Man hat es, oder auch nicht. Elektrisierend auf ein Publikum, spannungsgeladen, zu wirken, man hat es, oder nicht. Ein Publikum zu "bannen", man hat es, oder nicht. Die Konzertsituation sollte für den Spieler stimulierend, nicht aber hemmend sein, man hat es, oder nicht. Ein hervorragendes, unbestechliches Gedächtnis, man hat es, oder nicht. Außergewöhnliche interpretatorische Fähigkeiten, die - quasi einer unmittelbaren Gesamtschau über das jeweilige Werk - einen ganz eigenen, persönlichen Zugang bei dennoch unabdingbaren Ineins mit den Intentionen und dem Text des Komponisten gewährleisten, man hat es oder nicht. All dies, nur um wenige Punkte genannt zu haben, findet auf einer Orgel wenig Bedeutung. Dem Publikum in der Regel den Rücken kehrend, führt der Organist ein "Schattendasein". Seine Persönlichkeit bildet kein Intermedium zwischen ihm und dem Publikum. "Man hört die Orgel ...". Selbstverständlich liegt darin der besondere Reiz, das Instrument, unbeeinflusst vom Spieler und dessen Auftreten, und dessen Klang zu vernehmen. Also etwas Objektives. Lassen wir noch einmal Widor zu Wort kommen: "Aller Orgelunterricht, der technische und der künstlerische, geht nur darauf aus, einen Menschen zu dieser höheren reinen Willensmanifestation zu erziehen. Dieser Wille des Organisten, der sich in der Orgel objektiviert, soll den Hörer überwältigen. Die Orgel als Objektivierung des Geistes zum ewigen, unendlichen Geist darstellend, wird sie ihres Wesens und ihrem Ort entfremdet, sobald sie nur Ausdruck subjektiven Geistes ist." Damit dürfte auch dieser Blickwinkel hinsichtlich der absolut verschiedenen Anspruchs, aber auch bzgl. des komplett diametral-entgegengesetzten Zugangs beider Instrumente, ausgeleuchtet sein.

Ein begnadeter Pianist wird immer den fehlenden "Anschlag" und die damit manuell beinflussbare Klangfarbe auf der Orgel vermissen. Zugegeben, der «Anschlag» auf der Orgel beruht in erster Linie auf Artikulation und Phrasierung, eine künstlerische also Aufgabe für sich, aber dennoch, der Pianist wird dies als ein Defizit verspüren.

Auch schätzen wir Pianisten den bruchlosen dynamischen Übergang in allen Lagen, in allen "Registern" unseres Konzertflügels und kritisieren den bisweilen "starren Grundcharakter" des Orgelklangs mit seiner geringen Flexibilität. Die "symphonische Orgel" Orgel der Romantik glich dieses Phänomen zwar weitesgehend aus, die sog. «Orgelbewegung» der 20er und 30er-Jahre verstand ihre Ideologie jedoch als Verbannung dieser einstigen Entwicklung und entschied sich für die Rückwendung und Wiederherstellung klassischen Klanggutes. Heute weiß man, dass es ein Fehler war, großartige Instrumente von Walcker, Ladegast und Sauer ihrer Plätze zu verweisen bzw. diese durch Radikaleingriffe ihres Wesens zu entfremden. Nur noch wenige, zum Glück original erhaltene Instrumente zeugen von der einstigen Hochblüte dieser Epoche. Diese wenigen Instrumente sind es auch, die uns die Rekonstruktion der Klangvorstellung und Spielweise eines Max Reger und Joseph Rheinberger, um nur einmal zwei typische Vertreter der "Deutschen Orgelromantik" zu nennen, ermöglichen.

Um bzgl. des Anschlags die Sache noch drastischer zu formulieren: Ein hervorragender Pianist wird immer in der Lage sein - und möglicherweise wird es ihm gefallen, sofern er auch über entsprechende Pedalkenntnisse verfügt - Orgel überdurchschnittlich zu spielen, auch wenn "Anschlagsdifferenzierungen im pianistischen Sinne" nicht möglich sind.

Der hauptberufliche Organist jedoch, unabhängig seiner Qualitäten, wird niemals einen Konzertflügel in all seinen ihm selbst innewohnenden Registern, seiner ihm innewohnenden Farbe, zum "Klingen" bringen.

Ein weiterer Punkt von entscheidender Bedeutung ist die Frage der

Literatur bzw. des Repertoires:

Während die Literatur des Klaviers allumfassend ist und von frühbachschen Meistern wie Rameau und Froberger, über das große Klavierwerk von Bach selbst über die Klassik, die Romantik und die Moderne in uneingeschränktem Maße reicht, bilden die beiden großen Säulen des Repertoires der Orgelmusik das ?uvre von Bach und dasjenige von Max Reger. Selbstverständlich die französische Romantik, welche aber nur ein "Stern" bzgl. der Tiefe des Seins und der Ausdrucksform dieser beiden unumstrittenen Meister darstellen.

Ich selbst gestehe offen, dass mir dieses Feld bzgl. meines eigenen musikalisch-künstlerischen Horizonts, meines künstlerischen Wollens, zu eng war und immer noch ist. Heute gilt meine künstlerische Beschäftigung im Wesentlichen einem sehr eingegrenzeten Bereich der Orgel-Literatur: Bachs «sechs Triosonaten für Orgel», von denen bereits Nikolaus Forkel 1802 begeistert schrieb: "Man kann von ihrer Schönheit nicht genug sagen" und Marçel Dupré noch mehr als ein ganzes Jahrhundert später meinte, "sie seien eine wahrhafte Synthese aller symphonischen Formen, wie sie auch gegenwärtig noch verwendet werden" sowie den «sechs Orgelsonaten» Felix Mendelssohn-Bartholdys, die als ein Bindeglied zwischen barocker Satzkunst und den symphonischen Idealen der "Deutschen Orgel-Romantik" schwerlich unüberbietbar erscheinen.

Wer jedoch in der Welt der großen Klavierliteratur "zu Hause" ist, diese beherrscht und immer wieder öffentlich interpretiert, wer die Werke eines Frédéric Chopins, eines Robert Schumanns oder eines Johannes Brahms entsprechend aufzufassen sowie in ihrer abgründigen Zerrissenheit, ihrer Sinnlichkeit und in ihrem allumfassenden Ausdrucksradius zu ertasten weiß, dem wird die Literatur der Orgel schwerlich ein entsprechendes Pendant zu bieten bzw. entgegenzusetzen haben. Beethoven hat als zehn- bis zwölfjahriger Hoforganist zwar in der sechs-Uhr Frühmesse der Minoritenkirche zu Bonn die Orgel gespielt und mit gründlich vorbereiteten und ausschweifenden Modulationen (wie später aufgefundene Skizzen beweisen) den Sänger Heller - zur Freude des Kurfürsten - aus seinem Konzept gebracht, wie man in Biographien wiederholt zu lesen bekommt, seine 32 Klaviersonaten mit ihrem tiefschürfend-emotionellen und intellektuell-strukturellen Radius, an dem sich ganze Komponisten- und Pianisten-Generationen zu messen haben, hat er jedoch dem Konzertflügel anvertraut.

Die Entscheidung für das Instrument «Klavier» oder für das Instrument «Orgel»: Sie ist somit auch eine Entscheidung für das jeweilige Repertoire.

Mentalität:

Pianist, zudem konzertierender Pianist, zu sein ist etwas Außergewöhnliches. Schon seit jeher umgab den Konzertpianisten ein Hauch von etwas Magisch-Mystischem, eines "Außenseitertums". Franz Liszt war der Erste, dem dieser Ruf nicht nur nachfolgte, sondern vorauseilte. Umso mehr er sich entzog, umso "berühmter" wurde er. Horowitz, Michelangeli, alles Typen, deren bloße Namensnennung bereits Elektrizität erzeugt. Als Horowitz 1965 sein großes Comeback in New Yorks Carnegie Hall feierte, standen die Menschen eine Nacht vorher Schlange, um in den Besitz einer Eintrittskarte zu kommen. Horowitz sagten sie, sie hätten 12 Stunden für Karten angestanden, worauf er entgegnete, er selbst habe zwölf Jahre für diesen Moment angestanden.

Wenn Michelangeli auftrat (sofern er es tat...), verbreitete sich schon während seines Betretens des Podiums ein Gefühl der Beklemmung, der Elektrizität. Er brauchte noch nicht einmal zu spielen ...

Künstler mit ähnlichen Qualitäten, ob vergleichsweise mehr oder weniger berühmt - ein Problem, was an anderer Stelle diskutiert werden kann und nicht ausschließlich den Qualitäten eines Spielers selbst zuzuschreiben ist - lassen sich nicht auf eine 'Empore', dem Publikum abgewandt, 'verbannen'.

Diese Geschichten mit ihren wahren Hintergründen - jetzt habe ich nur einmal zwei davon kurz umrissen - kennt man nur in der 'Szenerie' der Pianisten. Hier ist "Starkult" möglich. Die Orgel, trotz ihrer Schönheit des Klanges, ist mit ihrem einmaligen Erlebnis des spirituell-visionären Charakters nur einem bestimmten Kreis von Menschen zugänglich.

Wer sich aber für die einzigartige Botschaft dieses Instruments erschließen kann, wem beispielsweise die frühen Orgelwerke Olivier Messiaens, wie «L'Ascension», «Le Banquet céleste» oder «La Nativité du Seigneur» mit ihrem philosophisch-visionären Duktus ein neues «Zeitgefühl», einen Aspekt der "stillstehenden Zeit" als Moment der Ruhe und Ewigkeit vermitteln, dem wird sich - unabhängig jeglicher Kriterien - eine eigene Welt erschließen, eine Welt der Kontemplation bzgl. eines eigenen Erlebnisses,eine Ebene der Ästhetik, des in sich Ruhenden, Wahren, Schönen ...

© Burkard Schliessmann, Germany/USA, 2000